: Entdeckergeste
Lidokino (1): Das vermeintlich verborgene asiatische Kino ist eine Erfindung. Nur ab und an wird sein Geheimnis gelüftet. Sein Glanz soll nur die Entdecker treffen, nicht aber unser Kino überstrahlen
VON CRISTINA NORD
Die allmählich sinkende Sonne verleiht den Stechmücken am Lido neue Energie und – wie zum Trost der geplagten Menschen – der Lagune eine außergewöhnliche Farbigkeit. Wo ein Boot das Wasser aufwühlt, wird sie blau, wo das schwache Sonnenlicht hinfällt, rosa, und das Ganze sieht aus wie ein flüssiges Ölgemälde. Heute Abend findet die Hauptattraktion jedoch auf der Adriaseite des Lidos statt: Im Palazzo del Cinema wird um 19 Uhr die 62. Mostra internazionale d’arte cinematografica mit Tsui Harks neuem Film „Seven Swords“ eröffnet. Der Titel legt es nahe: „Seven Swords“ ist ein Kampfkunstspektakel. Der Regisseur aus Hongkong hat unter anderem „Swordsman“, „Once Upon a Time in China“ und den dritten Teil von „A Chinese Ghost Story“ gedreht. Seinen neuen Film hat er im China des 17. Jahrhunderts angesiedelt. Glaubt man einem im Netz zirkulierenden Trailer, dann bietet „Seven Swords“ die für Martial-Arts-Filme charakteristischen Genüsse: an Wänden emporlaufende, sich in der Luft überschlagende Akteure, klingende Schwerter, choreografierte Gruppenkämpfe, über Wüstendünen galoppierende Pferde, von diesen Pferden aufgescheuchte Sandwolken und eine junge Schönheit, die, dekorativ an eine Säule gefesselt, ihrer Rettung harrt.
Marco Müller, der die Mostra seit dem vergangenen Jahr leitet, ist ein Fachmann für asiatisches Kino. Müller hat Sinologie studiert; er hat sich als Festivalleiter sowohl in Rotterdam als auch in Locarno um die Verbreitung asiatischen Kinos verdient gemacht. Diese Expertise schlägt sich nun in überraschend geringem Ausmaß im Wettbewerbsprogramm nieder – dort laufen mit Stanley Kwans „Changhen ge“ und Park Chan-wooks „Sympathy for Lady Vengeance“ nur zwei asiatische Produktionen. Zwar wird ein neuer Film des aus Taiwan stammenden Regisseurs Ang Lee präsentiert, „Brokeback Mountain“. Doch wie bei „Hulk“ und den Vorgängerfilmen handelt es sich um eine US-amerikanische Produktion, die sich zudem ein uramerikanisches Milieu vornimmt: Texas und Wyoming in den Sechzigerjahren, mit weiten Graslandschaften, Cowboys und Rangern.
Anders sieht es bei den Filmen aus, die außer Konkurrenz beziehungsweise in der Retrospektive laufen. Dort gibt es beispielsweise Gelegenheit, sich „Yokai Daisenso“, den neuen Film von Takashi Miike, anzuschauen – im vergangenen Jahr präsentierte er in Venedig seinen halluzinogenen Samurai-Blutrausch „Izo“. Darüber hinaus erhält der japanische Regisseur Hayao Miyazaki einen Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Sein hinreißendes Anime „Das wandelnde Schloss“ lief im vergangenen Jahr im Wettbewerb der Mostra und ist gerade in Deutschland gestartet. Mit Miyazaki wird ein Filmemacher ausgezeichnet, der die Möglichkeiten des Animationsfilms ausschöpft: die Flüssigkeit der Form, den Hang zur Metamorphose, die Virtuosität der Zeichnung, die Entfesselung der Einbildungskraft von physikalischen Gesetzen und gesundem Menschenverstand.
Gerade die entfesselte Einbildungskraft ist ja ein Charakteristikum asiatischen Filmschaffens, und sie kommt sicher zum Zuge, wenn Marco Müller die diesjährige Retrospektive als „Geheimgeschichte des asiatischen Filmes“ apostrophiert – „gewidmet dem ‚unsichtbaren‘ Kino aus Fernost“, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Als „geheim“ firmierte die Retrospektive auch im vergangenen Jahr, als sie den „Italian Kings of the B’s“ galt. Schon damals wurde Kritik laut. Weniger an dem Umstand, dass B-Filme ein A-Festival flankierten, als an den Projektionsbedingungen – manchmal wurden in der kleinen Sala Volpi einfach DVDs gebeamt. Davon ablenken, dass diese „geheimen“ Filme in Videotheken ihren festen Platz haben, konnte auch die gelegentliche Anwesenheit Quentin Tarantinos und Dante Ferrettis in der Sala Volpi nicht.
In diesem Jahr scheint das Attribut „geheim“ zunächst angemessen – wer kennt schon das vollständige Oeuvre von Regisseuren wie Kinji Fukasaku, Tai Kato oder Seijun Suzuki aus Japan oder von Maxu Weibang und Wan Laiming aus China? Nur: Wer es kennt, moniert die Entdeckergeste, mit der die Mostra präsentiert, was auf Retrospektiven anderer Festivals und in Filmkunsthäusern bereits lief – und zwar in kundigerer Zusammenstellung. „Bekanntes wird wieder und wieder ‚entdeckt‘“, schreibt der Kollege Olaf Möller in der Wiener Presse, „Asien hat im Zustand des beständig Verborgenen zu bleiben, um uns nicht überschatten zu können.“