Der Fotograf des Schreckens

„Ich fragte die Soldaten, warum sie Kindern und Säuglingen in den Kopf schießen“, erinnert sich Ronald Haeberle. „Keine Antwort, sie gingen weiter und feuerten um sich.“ Stunden später sind 504 Einwohner von My Lai tot. Haeberle hat alles fotografiert. Dass er auf den Auslöser drücken konnte, wundert ihn bis heute

■ Der Fotograf: Ronald L. Haeberle, 1941 geb., lebt in Cleveland, Ohio. Er studierte dort Fotografie, Psychologie und Geschichte, 1962 wurde er zur Army eingezogen. Dort arbeitete er als Fotograf während des Vietnamkrieges, wo er am 16. März 1968 eine Einheit nach My Lai begleitete. Haeberle ist geschieden und hat eine Tochter.

■ Die Täter: Am 31. März 1971 verurteilte ein Militärgericht den Offizier William Calley zu lebenslanger Haft wegen Mordes in 22 Fällen. Calley blieb der Einzige seiner Einheit, der für das Massaker verurteilt wurde, kein ranghoher Militär wurde zur Verantwortung gezogen. Nach kurzer Zeit begnadigte US-Präsident Nixon den Offizier.

■ Der Enthüller: Dem US-Militär gelang es 18 Monate lang, die Taten zu verheimlichen. Es war der Journalist Seymour Hersh, der sie aufdeckte und dafür den Pulitzerpreis erhielt.

■ Die Gedenkstätte: Seit 1976 gibt es in My Lai eine Gedenkstätte, die an die 504 Ermordeten erinnert.

AUS NORTH RIDGEVILLE MICHAEL MAREK

Armeefotograf wird Ronald Haeberle zufällig. „Als ich 1962 eingezogen wurde, kam ich nach Hawaii. Ich hatte meine Kamera dabei und fotografierte die Soldaten beim Training“, erinnert er sich. „Mein Vorgesetzter fand das gut. Und so wurde ich Fotojournalist in der Army.“ Nach Vietnam wird er nicht abkommandiert. „Ich wollte selber dorthin. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort los ist.“ Das Massaker von My Lai ist vor allem wegen Haeberles Bildern in Erinnerung geblieben.

An den 16. März 1968 wird er sich immer gut erinnern. Es ist die Hoch-Zeit des Vietnamkriegs, den die USA zur Wahrung ihrer Interessen im damals geteilten Vietnam führen. Soldaten einer US-Infanteriedivision, der „Charlie Company“, umzingeln das kleine Dorf My Lai, 540 Kilometer nordöstlich von Saigon. Sie sollen Angehörige des Vietcongs, der kommunistischen Widerstandsbewegung Südvietnams, aufspüren. „Nachdem wir mit unseren Hubschraubern gelandet waren, begannen unsere Leute, auf alles zu feuern. Ich sah, wie einer alten Frau in den Kopf geschossen wurde. Ihr Gehirn spritzte überall hin. Auf den Wegen lagen überall Leichen.“

Glückwünsche zum Mord

Vier Stunden später sind 504 Bewohner tot. „Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht“, wird General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam, der Mannschaft telegrafieren. Das Kriegsverbrechen unter Führung von Lieutenant William Calley besiegelt den moralischen Zusammenbruch der USA in Indochina.

Gut 44 Jahre später berichtet Haeberle mit ruhiger Stimme von den Geschehnissen. Er lebt in North Ridgeville, einem schmucklosen Vorort, 30 Kilometer südwestlich von Cleveland. Haeberle ist ein rationaler Mensch, es gibt keine Gefühlsausbrüche, wenn er von damals spricht. Bis heute habe er keine Albträume. Posttraumatische Belastungsstörungen? Fehlanzeige. Wenn Haeberles Stimme abrupt abbricht und neu ansetzt, nur dann scheint sich die innere Unruhe nach außen zu kehren.

Als er 1968 nach My Lai mitfliegt, heißt es, der Ort sei „heiß“, der Vietcong würde sich dort verstecken. „Doch das stimmte nicht. Wir wurden weder angegriffen oder beschossen, noch wurden im Dorf Waffen ud Mitglieder des Vietcongs gefunden.“ Mit einer Farb- und einer Schwarz-Weiß-Kamera hält er fest, wie die Männer der Charlie Company Frauen, Kinder und Männer ermorden, skalpieren, vergewaltigen, Tiere abschlachten, Brunnen vergiften, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand stecken.

„Es war alles total irreal“

„Es war alles total irreal, sogar Babys wurden massakriert“, berichtet Haeberle. „Ich fragte die Soldaten, warum sie das machen, warum sie Kindern und Säuglingen in den Kopf schießen. Ich bekam keine Antwort, sie gingen weiter und feuerten mit ihren M-16-Sturmgewehren um sich.“ Routine, Mordfieber und Lust sind nicht zu unterscheiden. „Kaltblütiger Mord“, das war mir sofort klar, sagt Haeberle heute. Seine Bilder zeigen die Mörder nicht beim Töten selbst, sondern so, als würden sie dem normalen Kriegshandwerk nachgehen. „Andernfalls hätten mich die eigenen Leute erschossen!“

Dass er damals auf den Auslöser drücken konnte, wundert ihn bis heute. „Ich war total schockiert. Ich stand irgendwie neben mir, so als wäre ich ganz weit weg. Wissen Sie, es war Krieg. Während des Mordens haben die Soldaten sogar Mittagspause gemacht. Ich habe auch das fotografiert, ich wollte diesen Wahnsinn dokumentieren.“

Nur einer wagt es, den Menschen zu helfen, Hubschrauberpilot Hugh Thompson. Er landet zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern, dann fordert er über Funk Hilfe für die Verwundeten an: „13 Vietnamesen wurden ausgeflogen. Während der ganzen Aktion hielten Thompsons Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn mit ihren MGs die eigenen Kameraden in Schach.“

Haeberle spricht ein bisschen hektisch und mit sparsamen Gesten, aber zuvorkommend und freundlich. Der groß gewachsene Mann trägt ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck „I love Laos“, verwaschene Bluejeans und eine Designerbrille. Seine Urgroßeltern sind aus dem Schwarzwald in die USA eingewandert. Haeberle selbst spricht kein Deutsch.

Über das Kriegsverbrechen redet Haeberle zunächst mit niemandem, es wäre lebensgefährlich gewesen – für ihn als „Nestbeschmutzer“ wie für die anderen Kollegen, die man beim nächsten Einsatz „vermutlich hinterrücks erschossen hätte“. Haeberle hält kurz inne und sagt: „Und wir als Fotografen waren ja auch schuldig geworden.“ Zurück im Basiscamp, muss er seine Leica, die Schwarz-Weiß-Kamera, abgeben. Die Nikon versteckt er. „Meine Vorgesetzten haben nicht nach der zweiten Kamera gefragt.“

Kurz nach dem Massaker endet im April 1968 seine Dienstzeit, Haeberle wird „ehrenhaft“ aus der US-Armee entlassen – seine Fotos sind noch nicht veröffentlicht. Er beendet sein Studium und arbeitet eine Zeit lang als Porträtfotograf in Cleveland, aber es drängt ihn, über das Massaker zu berichten. In seiner Heimatstadt stellt Haeberle eine Diashow zusammen, die er auf öffentlichen Veranstaltungen zeigt, unter anderem dem Kiwanis und dem Rotary Club. Unter die Serie von Fotos aus seiner Dienstzeit mischt er die Bilder von My Lai. Ungläubiges Staunen im Publikum, erinnert sich Haeberle. „Die Leute konnten sich nicht vorstellen, dass US-Soldaten solche Verbrechen begangen haben.“ Eine Frau vermutete gar, er habe sich „eine Seifenoper für Hollywood ausgedacht“.

Haeberle liefert Aufnahmen, die zur Aufklärung des Verbrechens beitragen. Zunächst war es dem US-Militär gelungen, die Mordtat zu vertuschen. Bis im November 1969 Haeberles Fotos in verschiedenen Medien erscheinen, zunächst im Cleveland Plain Dealer, dann im Life Magazine. Dafür erhält Haeberle im selben Jahr den Dead Line Award der New Yorker Journalistenvereinigung. Geehrt fühle er sich bis heute nicht, sagt Haeberle, „und es macht mich auch nicht stolz, über das Massaker berichtet zu haben. Aber mit meinen Bildern konnte das Kriegsverbrechen bewiesen werden.“

Viele US-Amerikaner sind schockiert: Die eigenen Soldaten, Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gegen den Kommunismus, entlarvt als eine Bande von Massenmördern. Die US-Armee setzt den Dreisternegeneral William Peers als Sonderermittler ein. In seinem Abschlussbericht beschreibt Peers auf mehr als 20.000 Seiten das Bild einer maroden Militärführung. Und er belegt, dass die Geschehnisse in My Lai nicht die Ausnahme, sondern die Regel während des Vietnamkrieges waren.

„Während des Mordens machten die Soldaten sogar Mittagspause“

RONALD L. HAEBERLE

Ob es richtig sei, dass Medien Bilder von Gewalt veröffentlichen? Ja, resümiert Haeberle, mit einer Ausnahme: Die Erschießung Bin Ladens hätte man nicht zeigen sollen. Seit dem ersten Golfkrieg sei es ohnehin undenkbar, dass Kriegsjournalisten nichtgenehmigte Aufnahmen veröffentlichen könnten.

Haeberles große Leidenschaft sind Fahrräder. Er sammelt Bikes. Sein ganzer Stolz ist die neueste „Rennmaschine“ aus Kohlefaser. Haeberle, mittlerweile 71, ist, auch wenn es seine Figur nicht erahnen lässt, noch immer sportlich. Zweimal ist er nach Vietnam als Tourist zurückgekehrt, zuletzt 2011. Er hat eine Fahrradtour von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon, unternommen. In My Lai hat er die Gedenkstätte besucht. „Das war für mich eine Ehrerbietung an die Opfer.“

Den Tränen nahe

Im letzten Jahr war er doch einmal den Tränen nahe. „1968 hatte ich eine sterbende Mutter fotografiert, die im Todeskampf ihr Baby und ihren kleinen Sohn zu schützen versuchte.“ Auf Haeberles Fotos sind die Verletzungen der Mutter zu sehen. Sie liegt im Gras, halb bedeckt von einem großen Strohhut, der Kopf fürchterlich entstellt. In den Medien wird dieses Bild nur selten gezeigt – es ist zu grausam. Der Junge nimmt seine Schwester auf den Arm und versucht zu fliehen. Aus Angst vor den Soldaten legt er sich mit ihr auf einen Feldweg und stellt sich tot. Haeberle fotografiert die beiden.

Der sechsjährige Junge von damals ist heute 51 Jahre alt und lebt in Deutschland. Tran Van Duc und der Fotograf von My Lai haben sich 2011 getroffen und angefreundet. „Ich habe Duc die Kamera gezeigt, mit der ich die Bilder von ihm und seiner Mutter aufgenommen habe.“ Sie steht nun bei Tran Van Duc in Remscheid auf einem kleinen Altar vor dem Bild seiner Mutter. Haeberle hat sie ihm geschenkt.

Bis heute haben die USA keine Entschädigung an die Überlebenden gezahlt. Haeberle hält von solchen Zahlungen nichts. „Wissen Sie, warum? Das Geld würde diejenigen, die es bräuchten, nie erreichen. Die US-Regierung sollte vielmehr alles dafür tun, dass Vietnam von den Resten des hochgiftigen Entlaubungsmittel Agent Orange gereinigt wird. Im ganzen Land steckt das Zeug noch im Boden und vergiftet alles. Das würde den Menschen wirklich helfen.“