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Archiv-Artikel

Doña Blanca und der Milchsee

FREIER HANDEL Europas Bauern dürfen überschüssige Milch bald nach Kolumbien exportieren. Doch die Kleinbauern dort kämpfen deshalb ums Überleben

AUS BOGOTÁ UND BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN

Das Hochland nördlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá hat sich in tiefen Morast verwandelt. Es regnet ununterbrochen. Über den Wiesen hängt tiefer, dicker Nebel. Blanca Mireya muss einige Minuten in der Morgendämmerung suchen, bis sie ihre schwarze Kuh auf der Weide entdeckt. Die Bäuerin stapft durch den Schlamm, setzt sich auf einen Holzschemel und fährt mit geübten Bewegungen über das Euter der Kuh. Jeden Morgen um kurz nach fünf sitzt die 45-Jährige hier. Ihre Existenz hängt vom Milchverkauf ab. „Ich habe zwei Kühe. Für mehr reicht mein Land nicht. Ich versorge auch meine Schwester und ihre beiden Töchter.“ Umgerechnet bekommt Blanca Mireya 40 Cent pro Liter. Bei durchschnittlich neun Litern am Tag reicht das gerade zum Überleben für sie.

Nun bedroht die Europäische Union mit ihrer aggressiven Handelspolitik die Existenz von Blanca Mireya und rund 500.000 weiteren kolumbianischen Milchbauern: „Die Europäer werden Milch nach Kolumbien importieren, und diese Billigmilch wird die Preise für uns kaputt machen.“

Alles schon unterzeichnet

Das Abkommen, vor dem sich Blanca Mireya so fürchtet, wird gerade in Brüssel abschließend ausgehandelt. Die EU-Kommission hat es vor der Sommerpause im Namen der 27 Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Auch die kolumbianische Regierung hat bereits unterschrieben. Nun fehlt noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments. Heute treffen sich die verantwortlichen Abgeordneten mit Vertretern der EU-Kommission und der Mitgliedsstaaten. Bis Ende des Jahres soll das Abkommen in trockenen Tüchern sein.

Das Prinzip ist klar: Beide Partner verpflichten sich, in einem gewissen Rahmen ihren Markt für die Produkte des jeweils anderen zu öffnen. Schutzzölle werden gesenkt oder abgeschafft. Üblicherweise exportieren die industrialisierten Staaten hochwertige Produkte wie Autos und Maschinen, die Entwicklungsländer liefern umgekehrt vor allem Agrarprodukte.

Diesmal haben die Verhandler aus Brüssel aber auch ein Agrarprodukt aus Europa in den Vertrag geschmuggelt: In Zukunft dürfen die EU-Bauern jedes Jahr 60 Millionen Tonnen Milch nach Kolumbien importieren – ohne Schutzzölle. Und genau das, befürchten Gewerkschaftler, Opposition und Landwirte, wird Blanca Mireya und den übrigen Kleinbauern zum Verhängnis werden.

„Zu glauben, dass ein Land wie Kolumbien mit Europa mithalten könnte, ist dumm“, sagt der Senator Jorge Robledo, der der linken Oppositionspartei Polo Democratico Alternativo angehört. „Der Wettbewerb ist einfach nicht fair.“

In Kolumbien haben die Milchbauern im Schnitt zwei bis zehn Kühe, die knapp fünf Liter Milch am Tag geben. In der Europäischen Union werden die Tiere auf Hochleistung gezüchtet. Sie geben viermal so viel Milch. Das Melken und die Verarbeitung sind industrialisiert. Und jeder Bauer besitzt im Durchschnitt 27 Kühe.

„Europa hat immer das Image kultiviert, dass sie die Guten sind und die Amerikaner die Bösen. Aber jetzt stellen wir fest, dass sie auch nicht besser sind. Sie wissen nicht, was sie mit der Milch in Europa machen sollen. Deshalb schütten sie sie hier ab“, sagt Jorge Robledo. In der EU kriegen die Bauern ihre Milch nicht los. Es gibt zu viel davon. Noch immer werden Butter und Milchpulver von der EU aufgekauft, um den Markt zu regulieren.

Mit Kolumbien bekommen die Landwirte einen neuen Markt. Das ist ein Ziel des Freihandelsabkommens, sagt Matthias Jörgensen. Der Beamte in der Europäischen Kommission hat das Abkommen mit ausgehandelt: „Wir mussten unseren Bauern zeigen, dass sie auch etwas von dem Abkommen haben, dass nicht nur kolumbianische Produkte in die EU kommen. Deshalb waren die Milchprodukte wichtig für uns.“

Beruhigung der EU-Bauern

Denn die europäischen Milchbauern gehen regelmäßig auf die Barrikaden, protestieren gegen den niedrigen Milchpreis. In drei Jahren soll auch noch die Milchquote abgeschafft werden. Dann fließt noch mehr Milch auf den Markt. Das Abkommen kommt für die EU-Regierungen genau zum richtigen Zeitpunkt.

Was es für die kolumbianischen Bauern bedeutet, scheint da Nebensache zu sein. „Die werden nicht schlechtergestellt. Wir wollen vor allem hochwertige Produkte und Milchpulver exportieren. Die stehen nicht in direkter Konkurrenz zur Frischmilch von Kleinbauern“, sagt Jörgensen.

Aber die Realität in Kolumbien sieht anders aus. Die Molkereien haben bereits ihre Preise gesenkt, um sich auf die Konkurrenz aus Europa vorzubereiten, sagt Isabel Ancizar-Sordo. Sie hat ihren Hof ein paar Kilometer südlich von Blanca Mireya. Mit ihren 20 Milchkühen gehört sie in Kolumbien schon zu den Großbauern. Sie hat zwei Angestellte und konnte sich auch eine einfache Melkmaschine leisten.

Eigentlich wollte sie demnächst in einen Kühltank investieren. Aber jetzt hat sie alle Investitionen auf Eis gelegt: „Die Molkereien zahlen uns schon jetzt weniger pro Liter. Wenn das so weitergeht, muss ich verkaufen und meine Landarbeiter entlassen.“ Die Bäuerin ärgert sich vor allem über den ungleichen Wettbewerb: „In der EU bekommen die Bauern Subventionen. Wir haben in den vergangenen zwölf Jahren keinen Cent Hilfe bekommen.“

In der Europäischen Union macht die Unterstützung mehr als die Hälfte des Gesamteinkommens der Landwirte aus. Von 2014 bis 2020 will die EU über 435 Milliarden Euro für die Agrarwirtschaft ausgeben.

Die kolumbianische Regierung wiegelt genauso ab wie die EU-Kommission in Brüssel. Das Abkommen sei fair, erklärt der stellvertretende Minister für Außenhandel, Gabriel Duque, in Bogotá. Er träumt von europäischen Investitionen in seinem Land, zum Beispiel von Callcentern für spanische Firmen. Und er unterstreicht die besseren Bedingungen für kolumbianische Exporteure wie die Bananenkonzerne.

Tatsächlich sinken die Schutzzölle für Banacol, den Konzern, der in Kolumbien unter anderem für Rewe und Chiquita Bananen anbaut, erheblich. Das bisherige Abkommen im Rahmen der Welthandelsorganisation sieht bis 2017 einen Rückgang auf 114 Euro Zoll pro Tonne vor. Mit dem Freihandelsabkommen sind es nur noch 75 Euro.

Die Marketingchefin von Banacol, Maria Teresa Velasquez Posada, kann sich trotzdem nicht recht freuen: „Die EU hätte viel weiter gehen können. Aber sie hat unsere Einfuhrmenge streng beschränkt. Wir können also nur gemäßigt davon profitieren.“ Außerdem ist Velasquez Posada überzeugt, dass die Supermarktketten in der EU ihren Konzern unter Druck setzen werden, seine Endpreise entsprechend zu senken. „Es kann sein, dass für uns gar kein Mehrwert übrig bleibt.“

Für Blanca Mireya ist es keine Frage des Mehrwerts, sondern eine des Überlebens. „Wir müssten alles hier aufgeben, unser Elternhaus verlassen. Wovon wir dann leben sollen, wissen wir nicht“, sagt Blanca.

Ganz ignorieren konnte offenbar auch die EU die Misere nicht. Sie hat der Regierung in Bogotá 50 Millionen Euro überwiesen als Unterstützung für die Kleinbauern. Bei 500.000 Bauern sind das lächerliche 100 Euro pro Hof. Aber selbst dieses Geld ist bei Blanca Mireya noch nicht angekommen.