: Tanz den Chromosomensatz!
Im Rahmen des Festivals Tanz im August wagt Starchoreograf Wayne McGregor ein angenehm größen-wahnsinniges Experiment: Er lässt in „Autobiography“ seine DNA tanzen – zur Musik der US-Produzentin Jlin
Von Jens Uthoff
Die eigene Biografie, die Gesamtheit des gelebten Lebens in ein einziges Tanzstück von 80 Minuten fassen – kann das funktionieren? Um sich diesem angenehm größenwahnsinnigen Vorhaben zu nähern, hat sich der britische Starchoreograf Wayne McGregor mit den biologischen Grundlagen des Lebens befasst: Er hat sein Genom entschlüsseln lassen. Aus den 23 Chromosomenpaaren und deren unzähligen Erbinformationen werden bei McGregor kurze Tanzepisoden, die zusammen das Stück „Autobiography“ bilden. Dabei ist jede einzelne Aufführung anders: ein Algorithmus bestimmt, zu welchem Chromosomenpaar und welchem Thema getanzt wird.
Ohne Kenntnis des Stücks könnte man den Ansatz auch biologistisch lesen, und kompliziert hört er sich obendrein an. Doch wird die Idee am Samstag im Rahmen des Festivals Tanz im August zu einem Abend großartiger Bewegungskultur – und großartiger Musik. Denn der Soundtrack zu den Tanzepisoden kommt von der US-amerikanischen Produzentin Jlin, deren breakbeatreiche Musik den Stilen IDM und Footwork zugerechnet wird. Jlin gehört zu den aufregendsten Elektronikmusikerinnen dieser Tage, ihre Stücke zu „Autobiography“ werden Ende September auch als Album erscheinen. Jetzt konnte man schon mal Probehören.
Das Bühnenbild im Haus der Berliner Festspiele wirkt unscheinbar, hat es aber in sich. Wichtigstes Element ist eine absenkbare Decke, die aus pyramidenförmigen Aluminiumskeletten besteht; die Tanzfläche illuminiert sie zum Teil mit weißem oder rotem Licht. In einer Episode senkt sich die Decke gar ganz auf die Tänzerinnen und Tänzer herab und verengt so den Tanzraum. Dazu kommen Strahler und Stroboskoplicht von der hinteren Bühnenwand, als Requisiten nutzt die zehnköpfige Londoner Kompanie zeitweise einige wenige Stühle. Davon abgesehen gehört die Bühnenfläche ganz den Tänzerinnen und Tänzern.
Diese tanzen den Chromosomensatz dann quasi nach Random-Prinzip – die Einzelepisoden werden mit einer Übertitelung angekündigt, etwa „2 (dis) equilibrum“, „4 knowing“, „19 ageing“, „14 lucent“. Dabei tanzt das Ensemble all die Facetten eines Menschenlebens abwechslungsreich und eindringlich. Die Kraft entwickelt das Stück dank seiner Gegensätze: Da ist manchmal die gesamte Kompanie auf der Bühne, zehn Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich dann zu kräftigen Bässen und Stotterbeats in hohem Tempo und in stets neuen Formationen tastend umeinander herum. Im nächsten Augenblick schleicht ein Trio im Zeitlupentanz wie auf Samtpfoten über die Bühne, dann wieder sitzen alle einfach in einer Stuhlreihe, während Vogelgezwitscher ertönt; daraus werden kurz darauf organische Bewegungen um die Stühle herum, begleitet von Minimal Music.
Was Jlins Musik betrifft, so hat sie ihr Repertoire, das eigentlich vor allem aus dominanter, fordernder, polyrhythmischer Musik besteht, deutlich erweitert. Zu „Autobiography“ erklingen eben auch Minimal- und Ambient-Klänge, es gibt Piano- und Streicherstücke im Soundtrack. Wechsel zwischen laut und leise, zwischen hochdynamisch und ‚frozen’ sind zu hören, die eben für die Wechselhaftigkeit, auch für die Unberechenbarkeit allen Lebens stehen. Zum Thema „19 ageing“ erklingt passenderweise ein Dark-Folk-Stück mit der mehrfach wiederholten Gesangszeile „Life’s not always pain“. Sehr langsam schreiten sechs Tänzerinnen und Tänzer dazu in einem großen Kreis, während drei Akteure in der Mitte tanzenderweise aktives Anti-Aging betreiben.
In einer der gelungensten Episoden des Abends zirkulieren dann zwei Tänzerinnen zum Minimal-Music-Sound elegisch umeinander herum, ehe sie zu synchronen Bewegungen übergehen. Es ist ein sehr leiser Moment, das Bühnengeschehen wirkt traumhaft fließend, bis kurz darauf rüttelnde Beats und hohe Synthieklänge eine Zäsur setzen. Überhaupt, Zäsuren bestimmen diesen Abend, bestimmen ein jedes Leben. Wayne McGregor ist bekannt dafür, Stoffe von AlI bis hin zu Genetik in Tanz zu übersetzen.
Er selbst hat „Autobiography“ als „improvisatorisches Experiment“ beschrieben, das in der Tradition des „Life Writing“ stehe, wie er dem Guardian erklärte: „Das Leben entfaltet sich, ohne dass wir Kontrolle darüber haben, und wir müssen uns zu den jeweiligen Umständen verhalten.“ In diesem Sinne funktioniert „Autobiography“ hervorragend, denn das Stück bildet die Zufälle und das Improvisierte einer jeden Biografie gut ab. Der Überbau – der Versuch, die DNA zu tanzen – wirkt dagegen eher etwas willkürlich, zu dick aufgetragen, vielleicht gar irreführend. Das Stück und die Musik aber sind toll – und der lange Applaus im Haus der Berliner Festspiele allzu verständlich.
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