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Archiv-Artikel

Ein neuer Blick aufs Alter

Experten empfehlen im Altenbericht der Regierung, das Potenzial der betagten Generation besser zu nutzen. „Eine Art Bafög“ auch für Ältere wäre schön. Schwierigste Frage bleibt: Wie durchbricht man den Jugendwahn auf dem Arbeitsmarkt?

41 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der älter als 50 Jahre ist

VON COSIMA SCHMITT

Ein Monat, drei Berichte: Der August ist die Hoch-Zeit der Regierungsstudien über die Lage der Nation. Nach Familien und Kindern widmen sich die Forscher nun einer weiteren Bevölkerungsgruppe – den Alten. Gestern übergab eine Expertencrew der Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) ihr Vielhundert-Seiten-Werk.

Der Bericht mahnt zum präzisen Blick. Denn längst teilen sich „die Alten“ in zwei Gruppen: die 60- bis 80-Jährigen, körperlich wie geistig meist durchaus fit. Und die über 80-Jährigen, die tatsächlich mehr und mehr von Gebrechen gezeichnet sind.

Der Bericht richtet seinen Blick vor allem auf jene erste Gruppe. Er greift eine Sichtweise auf, die schon die übrigen Berichte kennzeichnete: Stärker als bisher versuchen die Autoren, die Menschen als Gut zu betrachten, deren Kapital es zu nutzen gilt. Sie kämpfen an gegen das Bild des teuren Alten, der die Rentenkassen ruiniert und die Pflegesysteme überlastet – und diskutieren die Wirtschaftsressource Senior.

Zum einen wäre da der Rentner als Motor der Binnennachfrage. Über ein Drittel der Kaufkraft der Nation bündelt sich auf den Konten der über 60-Jährigen. Die Statistiker wissen auch: Eher als ein Jüngerer ist der Senior bereit, sein Geld auch tatsächlich auszugeben. Zugleich sinkt in Deutschland die Zahl der von Armut bedrohten Alten. Derzeit leben 11,4 Prozent in „materiellen Risikolagen“, so die Forscher – weit weniger als in den Jahren zuvor. Die Wirtschaft habe auf die Entwicklung noch viel zu wenig reagiert, sagt Berichtsautor Andreas Kruse von der Uni Heidelberg. Er fordert den Ausbau der „Seniorenmärkte“ – ein Rundum-Angebot für den kaufkräftigen Rentner. Ministerin Schmidt müht sich um Mithilfe im Kleinen, verkündete sie gestern: Sie will ein Gütesiegel anregen, das seniorengerechte Qualitätsware vom Pfusch-Produkt scheidet.

Wichtiger noch als eine altersgerechte Warenwelt ist den Forschern ein zweiter Punkt: Wie durchbricht man den Jugendwahn auf dem Arbeitsmarkt? Denn noch weist die Realität in eine andere Richtung. 41 Prozent aller Betriebe beschäftigen niemanden, der älter als 50 Jahre ist. Dass sich der Trend in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kurzfristig umkehren lässt, bezweifeln selbst die Forscher. Sie halten es für durchaus bedenkenswert, das gesetzliche Rentenalter anzuheben – falls der Arbeitsmarkt das hergibt. In einem Punkt waren sie sich sicher: Durch ein Weniger an Kündigungsschutz lasse sich das Problem nicht lösen – das zeige der internationale Vergleich.

Die Ministerin plädiert daher für eine Nischensuche: die Fahndung nach jenen Arbeitsmarktlücken, die ein Senior besser als ein Junior ausfüllt. So lasse sich eine ältere Kundin beim Kleiderkauf lieber von einer reifen Verkäuferin beraten als von einer 20-Jährigen. Ein 60-Jähriger tue sich leichter, für einige Monate in der Auslandsfiliale einer Firma zu arbeiten, als der Mittdreißiger mit kleinen Kindern. Außerdem seien ja gerade die Älteren prädestiniert, Produkte für den Zukunftsmarkt Seniorenbedarf zu entwickeln.

Die Forscher indes setzen auch auf staatliche Senioren-Arbeitshilfe. Denn ein Zentralproblem kann selbst engagierte Nischensuche nicht beheben: Viele Firmen entlassen deshalb ihre ergrauten Mitarbeiter, weil sie sie als wenig produktiv und wandlungsfähig empfinden. Kruse plädiert daher für „eine Art Bafög“ auch für Ältere. Der Staat müsse durch Zuschüsse und Darlehen bildungswillige Erwachsene fördern – zumindest solche, die nicht ohnehin über gute Einkommen verfügen. „Präventives Bilden“ nennen das die Autoren. Insofern löse der Staat sein Seniorenproblem auch dadurch, dass er in Kitas investiert. Ihre Analyse ergibt: Nur wer als Kind an Bildung herangeführt wird, ist später offen für die ständige Weiterqualifikation. Das derzeitige System hingegen führt zu zwei Klassen der älteren Arbeitnehmer: die, die sich einer wandelnden Welt anpassen können – und die, die schon als 45-Jährige von ihren Firmen als „überflüssig“ eingestuft werden.

Renate Schmidt vermied gestern konkrete politische Zusagen. So ist ungewiss, ob die betriebsame Seniorenwelt je mehr wird als ein Papierentwurf.

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