„Ich will nie wieder Minister werden“

INTERVIEW BARBARA DRIBBUSCH
UND ULRIKE WINKELMANN

taz: Herr Riester, genießen Sie jetzt täglich einen stillen Triumph, weil so viele Ihrer alten Pläne wieder diskutiert werden? 1998 traten Sie mit dem Kombilohn an, jetzt kommt Merkel damit.

Walter Riester: Für Triumphe bin ich nicht der Typ. Ich habe ja meine eigene Position selbst häufig korrigiert. Ich glaube nicht mehr, dass Kombilöhne dauerhaft mehr Beschäftigung bringen. Subventionierung von Löhnen über Steuermittel führt häufig nur zu Mitnahmeeffekten. Wir haben seit 1998 so viele Variationen von Kombilöhnen versucht – ohne nachhaltige gute Ergebnisse.

Viele Experten fordern nun aber, bei gering Qualifizierten die Lohnnebenkosten, sprich die Sozialabgaben, zu ermäßigen und mit Steuern aufzufangen.

Die Bedeutung der Lohnnebenkosten wird absolut überschätzt. Eine Handwerkerstunde von 51 Euro enthält als Bruttostundenlohn 13 Euro. Davon sind 20,5 Prozent die Sozialversicherungskosten des Arbeitgebers: Macht 2,60 Euro. Glauben Sie, die Kunden würden mehr nachfragen, wenn die 51 Euro etwa um ein Viertel dieser Sozialabgaben, also 65 Cent, vermindert würden?

Auch die Pflicht zur privaten Altersvorsorge taucht nun wieder auf.

Auch hier habe ich dazugelernt. Erst dachte ich, dass bei der privaten Rente die Pflicht so wichtig ist wie bei der gesetzlichen Sozialversicherung. Dann aber habe ich gedacht, die Verpflichtung ist bei hoher Förderung gar nicht nötig. Ich hatte ja auch Bedenken, keine Mehrheit in der SPD-Fraktion dafür zu bekommen. Heute bin ich wieder für das Obligatorium.

Aufgrund welcher neuen Erkenntnis?

Die Förderung für die, die gering oder gar nicht verdienen, ist so enorm, dass eine Verpflichtung materiell zu rechtfertigen ist. Eine Familie mit zwei Kindern, die nur vom Arbeitslosengeld II lebt, müsste für eine Riester-Rente im Jahr 60 Euro einzahlen. Dafür bekäme sie 2005 das Fünf-, ab 2006 das Siebenfache des eigenen Einsatzes als Förderung. Das lohnt sich auf jeden Fall.

Könnte es sein, dass Rot-Grün allzu oft die eigenen Positionen verpaddelt hat?

Ich kann Ihnen sagen, wie das „Verpaddeln“ aussah. Ich hatte schon einen großen Teil des Kabinetts und der Fraktionsspitze für die Privatvorsorge-Pflicht eingenommen. Als die Bild aber mit dem Wort „Zwangsrente“ titelte, waren erst die Grünen, dann auch unsere eigenen Leute dagegen. Dann hab ich den Kanzler angerufen und gesagt: Gerd, halten wir das durch? Er sagte: Ich stehe voll dahinter. Es war aber die Fraktion, die sich quer zu stellen drohte.

Aber Schröder hat sich doch nie um die Fraktion geschert.

Wäre ich in der Fraktion gescheitert, wäre ich zurückgetreten. Und das hätten wir uns zu Beginn der ersten Legislatur einfach nicht erlauben können. Damit war die Verpflichtung vom Tisch.

Hat Rot-Grün sich von Medien-Coups steuern lassen?

Das mit den Medien-Coups ging am Beispiel der Pflicht-Riester-Rente so: Ein Bild-Redakteur rief an, dass morgen die Bild mit der Schlagzeile „Zwangsrente Riester“ aufmacht. Nur wenn ich ihm ein Exklusivinterview gäbe, würde er die für den Folgetag geplante Schlagzeile „Wann fliegt Riester?“ verhindern können. Und ich blöder Hund bin auch noch darauf eingegangen! Die Schlagzeile am Tag drauf lautete: „Wutwelle rollt auf Bonn“. Das war kaum besser.

Rentenexperten sagen, die Politik gehe nicht ehrlich genug mit der Rente um. Es werde bald wieder echte Altersarmut geben. Muss die Politik noch mehr Zumutungen ankündigen?

Rentenansprüche haben laut Bundesverfassungsgericht Eigentumscharakter. Die muss die Politik schützen. Wenn wir wieder höhere Renten haben wollen, müssen eben die Einkommen der Beschäftigten und damit die Rentenversicherungseinnahmen wieder steigen.

Viele junge Leute sehen nicht ein, warum sie Rentenbeiträge zahlen sollen, wenn sie im Alter nur eine Rente auf Sozialhilfeniveau bekommen.

Jede jüngere Generation hat allein schon deshalb einen Vorteil, weil sie länger lebt und deshalb länger Rente bekommt als ihre Eltern. Der längere Rentenbezug ist eine hohe Rendite an sich.

Aber warum sollen junge Leute für eine Minirente einzahlen, wenn ihnen die Sozialhilfe in jedem Fall sicher wäre?

Diese Einstellung, dass einen der Staat, also der Steuerzahler, im Alter schon auffängt, darf sich nicht verbreiten. Und die Politiker dürfen das Argument auch nicht bedienen.

Sie waren ja nicht nur Renten-, sondern auch Arbeitsminister: War es ein Fehler, das traditionelle Arbeits- und Sozialministerium zu zerschlagen?

Ja. Das hab ich dem Kanzler auch gesagt, als ich von diesem Plan 2002 aus der Presse erfahren hatte. Ich sagte ihm: Wenn du das machst, ist es das Signal an die Wirtschaft, dass du einen Wirtschaftsminister mit der Lizenz zur Veränderung des Arbeitsrechts, des Sozialrechts und des Arbeitsmarkts installierst. Die Wirtschaftsverbände werden entsprechende Forderungen stellen. Um Akzeptanz zu erreichen, wird er sich vielem nicht entziehen können. Anzunehmen, die Wirtschaftsverbände könnten dann die Betriebe dazu bringen, mehr einzustellen – das wäre naiv.

Fragt Wolfgang Clement Sie manchmal, wie er aus dem Schlamassel herauskommt?

Nein. Wir hatten ein gutes Gespräch, als ich ihm das Ministerium übergab. Er hat keine Beratung angefordert.

Sie waren es, der im Frühjahr 2002 die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe angekündigt hat. Sind Sie nicht auch froh, dass Sie das nicht machen mussten – um jetzt für den Untergang Rot-Grüns verantwortlich zu zeichnen?

Nein.

Was ist denn falsch gelaufen bei Hartz IV?

Zum Beispiel haben wir zu wenig vermittelt, dass das neue System keine Ausweitung des Arbeitsmarkts bewirkt. Selbst wenn wir eine bessere Vermittlung hätten, brächte das nicht viel, solange keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden.

Ist es ein deutscher Fehler, dass die Leute glauben, die Regierung könne Jobs schaffen?

Ja. Aber es ist auch ein Fehler der Politik, dass sie sich nicht die nötigen Gedanken macht, wie man das wachsende Potenzial an Arbeit auch befriedigen kann. Es geht uns ja nicht die Arbeit aus – wir haben wachsenden Bedarf an Arbeit in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, Pflege und kommunale Infrastruktur. Darauf reagiert der Arbeitsmarkt aber nicht.

Wenn Sie nun morgen wieder Minister wären – was würden Sie denn dann machen?

Ich will nie wieder Minister werden. Aber in der Gesundheit, in der Pflege, in der Prävention gibt es ein gigantisches Potenzial notwendiger, zusätzlicher Arbeit. Namhafte Gesundheitsökonomen haben darauf hingewiesen, dass durch Transparenz und Effizienz zwanzig Prozent der Kosten eingespart werden können – bei gleicher Leistung. Mit diesen freigesetzten Mitteln könnte eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen werden. Sie dürften nur eben nicht zur Senkung der Kassenbeiträge verwendet werden.

Kann die Politik nationalstaatlich überhaupt noch etwas bewegen? Viele Experten sagen, die Bundespolitik gehe nicht offen genug mit ihrem Bedeutungsverlust um.

Das stimmt. Sozial- und Rechtsstaatlichkeit müssen mittlerweile auch international gedacht werden. Die Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit holt alle ein. Wir werden weitere Reformen benötigen. Überlegen Sie einmal, wie weit die Tarifautonomie inzwischen unterlaufen ist – früher eine Bastion der Gewerkschaften. Früher war ich dagegen, doch mittlerweile bin ich deshalb auch für einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen eine unterste Lohnlinie. Wer solche Veränderungen nicht mitträgt, ist strukturkonservativ.

Rot-Grün hat allein mit den Steuerreformen viele Milliarden Euro verschenkt – und sich dann über mangelnden Handlungsspielraum beklagt. Wie glaubwürdig ist das rot-grüne Globalisierungsargument noch?

Es gibt tatsächlich Politiker, die ihre Fehler mit dem Hinweis auf Globalisierung und Demografie vertuschen wollen. Die Frage ist doch bloß, was wir daraus lernen. Ich glaube, das Falscheste ist, Illusionen zu erwecken.

Was war denn Ihr größter Fehler?

Ich hab ja teilweise die Illusionen mitgetragen. Zum Beispiel war ich auch nicht frei von der Lohnnebenkosten-Argumentation – habe sie am Anfang sogar geglaubt, weil doch eine Million Fliegen nicht irren können.

Und die größte Kränkung?

Die Reaktion meiner Freunde und Kollegen aus der Gewerkschaft auf mich, als ich Minister war: „Arbeiterverräter“, riefen da einige.

Und die größte Errungenschaft?

Ich habe mich nicht verbiegen lassen. Und dass ich die Macht loslassen konnte.