: Was Kinder tun
In seinem Dokumentarfilm „Klassen-Leben“ schildert Hubertus Siegel den Schulalltag aus der Schülerperspektive – die kommt gleich am Anfang ziemlich schonungslos daher
So wirklich spannend klingt es zunächst nicht – doch dass die Schule einen reizvollen Stoff für Dokumentarfilme abgibt, hat der französische Regisseur Nicolas Philibert bereits vor drei Jahren gezeigt. „Sein und Haben“ hieß sein Film, und das war ganz passend, verdichteten sich im Leben der Kleinen doch die ganz großen, existenziellen Fragen.
Statt in die französische Provinz führt Hubertus Siegerts Dokumentarfilm „Klassen-Leben“ in einen grauen Berliner Wintermorgen. Die Stadt wacht gerade auf, erste Lichter brennen in den Wohnungen, nach und nach trudeln die Schüler auf dem Schulhof ein. Von draußen geht es hinein ins Klassenzimmer, vom Blick über die Dächer hinunter in die Kinderperspektive.
Die kommt gleich ziemlich schonungslos daher: „Ich glaube, Erziehung hat mit allem etwas zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit Freundlichsein. Das Letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht hassen“, sagt Dennis. Und für Marvin ist ohnehin klar, was Vorrang hat: „Mein erstes Leben ist die Jugend-Feuerwehr.“
Was ist Bildung? Was sollen Kinder in der Schule lernen, und wie sollen sie es tun? Hubertus Siegert hat eine besondere Schule aufgesucht, um diesen Fragen nachzugehen. Die Klasse 5 b der Berliner Fläming-Schule, die der Regisseur ein Schulhalbjahr lang begleitet hat, ist eine der wenigen Integrationsklassen in Deutschland: Behinderte und nichtbehinderte Kinder, Lernschwache und Höchstbegabte werden hier gemeinsam unterrichtet. Da ist etwa Dennis, der vorne an der Tafel eine komplizierte mathematische Formel erläutert, während Marvin im hinteren Teil der Klasse kaum das Datum des Tages zusammenkriegt. Da ist Luca, die am Tag vor Diktaten nicht schlafen kann vor Aufregung, oder Johanna, die blind auf die Welt kam und sich wünscht, einmal wie die anderen sehen zu können.
Gemeinsam wird eine Theateraufführung vorbereitet. Mit großer Hingabe erarbeiten sich die Schüler die einzelnen Szenen, immer wieder hakt es an der einen oder anderen Stelle, aber bald nimmt das Stück Form an. Wie ein Gleichnis für den Umgang miteinander scheint das Rollenspiel: den Standpunkt wechseln, sich in einen anderen hineinversetzen können – das praktizieren die Kinder der Fläming-Schule Tag für Tag. Und so unterschiedlich ihre Fähigkeiten sind: Schnell wird klar, dass jeder seine Stärken wie auch seine Schwächen hat, auf der Bühne wie im wahren Leben.
Der Film verzichtet auf jeden Kommentar; einzig die Schüler selbst hört man über ihr Schulleben reflektieren. Sie sprechen von ihren Problemen und Ängsten – und von ganz gewöhnlichen Dingen. Elf Jahre sind sie alt, an der Schwelle zur Pubertät und mit dem Schlamassel konfrontiert, dass die Welt da draußen nach verwirrenden Regeln abläuft. Schön ist es, dass ihre Stimmen oftmals als Voice-Over über die Bilder gelegt sind. Denn was die Kinder tun und was sie sagen, sind nicht selten zwei verschiedene Dinge. Innig miteinander beschäftigt sieht man einen Jungen und ein Mädchen und hört aus dem Off ihren trockenen, frühreifen Kommentar: „Liebe? Hmmh, was Größeres ist es eigentlich nicht.“
Stand in Philiberts „Sein und Haben“ der Klassenlehrer im Vordergrund, so konzentriert sich Siegert auf die Perspektive der Kinder. Auch die Lehrerin, Frau Haase, wird aus dem Blick der Schüler gezeigt. Das ist mitunter schonungslos, gleichwohl bleibt sie sympathisch. Zumal der Film in einer Interview-artigen Sequenz einblendet, wie die Pädagogin auch ihre eigene Arbeit hinterfragen und Fehler eingestehen kann. Die Konzepte der Großen jedenfalls gelingen nicht immer – auch der pädagogische Betreuer der Klasse, der wortgewandt einen Streit schlichtet, scheitert im Anschluss daran, einem behinderten Mädchen die Jacke zu schließen.
„Klassen-Leben“ wird seinem Titel vollauf gerecht, denn jenseits von pädagogischen Konzepten schafft der Film ein Bewusstsein für die ungemeine Komplexität, mit der die Schule und jeder Schüler selbst fertig werden müssen. Ein Film, der ohne Kitsch schildert, was es für die Schüler heißt, mit Behinderungen und mit Krankheit konfrontiert zu sein. Und der wunderschön und todtraurig zugleich ist. SEBASTIAN FRENZEL
„Klassen-Leben“. Regie: Hubertus Siegert. Deutschland 2004, 90 Minuten