: Szenen eines Jahrhunderts
SCHLEIER DES HISTORISCHEN Der Spielfilm „The Dust of Time“ von Theo Angelopoulos geht aufs Ganze und wird im Konkreten tönern
VON BERT REBHANDL
In Berlin ist ein Mädchen verschwunden. Eleni ist die Tochter eines berühmten Filmemachers, sie hat sich einfach davongemacht, nun sucht alle Welt nach ihr. Sie wird schließlich dort gefunden, wohin sich eine ganze Reihe von Außenseitern zurückgezogen hat, in einer leeren Gewerbeetage, unter Punks und Obdachlosen. Die Flucht könnte ein Signal sein für ihren Vater, der tief in die Vergangenheit verstrickt ist und deswegen die Gegenwart seiner nächsten Menschen nicht ausreichend wahrnimmt. Die Flucht könnte aber auch ganz einfach ein kleines Thriller-Element sein in einem Film, der sich damit von der schweren Last erholt, die er sich auferlegt hat.
Denn Theo Angelopoulos versucht in „The Dust of Time“ nicht weniger, als die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ausgehend von Griechenland, der Heimat des Regisseurs, erstreckt über die ganze Erde und all die Wege des (linken, jüdischen) Exils, zu denen die Menschen durch die vielen Systemwechsel und durch die Unberechenbarkeit der totalitären Systeme gezwungen wurden. „The Dust of Time“ beginnt in Rom, vor den Toren zu den Filmstudios von Cinecittà, wo der Regisseur A. (Willem Dafoe) einen Film über die Geschichte seiner Familie dreht. Eine Frau besteigt einen Zug, sie fährt von Griechenland nach Kasachstan, sie verlässt die Heimat, in der ein rechtes Regime herrscht. Szenen im Zug zählen zu den Klassikern des Studiokinos, das wissen wir seit Hitchcock und zahlreichen anderen Regisseuren – nichts lässt sich leichter nachbauen als ein Zugabteil und die engen Gänge, die in den Restaurantwagen führen.
Theo Angelopoulos spielt also von Beginn an mit der Künstlichkeit, die das Kino aufwendet, um historische Geschehnisse nachzustellen. Er zielt mit „The Dust of Time“ aber doch auf die Gesamtheit von Erfahrungen, die sich in einem Subjekt wie dem Filmemacher A. konzentrieren. Seine Mutter (Irène Jacob) – sie heißt Eleni wie A.s Tochter – hat in ihrem Leben zwei Männer gekannt: Spyros (Michel Piccoli) und Jacob (Bruno Ganz). Mit beiden bleibt sie ein halbes Jahrhundert lang in Verbindung, sie werden immer wieder getrennt und finden immer wieder zusammen. Das Exil der griechischen Oppositionellen in Kasachstan ist ein markanter Handlungsort, Angelopoulos setzt hier in einer seiner berühmten Plansequenzen den Tod des sowjetischen Diktators Stalin in Szene. Selbst an diesem Außenposten des Kommunismus löst die Nachricht einen großen Auflauf aus.
Sibirien, New York, Rom und schließlich Berlin in der Nacht auf das Jahr 2000 sind weitere Stationen von „The Dust of Time“ – es gibt ein wenig Gegenwartshandlung mit der kleinen Eleni und deren Mutter Helga (Christiane Paul), die von A. schon lange getrennt lebt. Vor allem aber kehrt Angelopoulos immer wieder zu den Szenen des Jahrhunderts zurück, und er lässt dabei mit Bedacht den von A. gedrehten Film im Film mit seinem eigenen Film allmählich verschwimmen. Es gibt keinen objektiven Erzählstandpunkt, es gibt nur die Verarbeitung von Schicksalen, die sich noch in die zweite und dritte Generation fortsetzen.
Dieser künstlerische Perspektivismus liegt bei Theo Angelopoulos im Streit mit einem ästhetischen Hang zu Symbolen, zu verdichteten Bildern (unvergesslich der auf ein Schiff verfrachtete und abtransportierte monumentale Leninschädel in „Der Blick des Odysseus“, auch damals schon ein Abgesang auf das 20. Jahrhundert), zu der allegorischen Inszenierung von Geschichte wie in seinem berühmtesten Film „Die Wanderschauspieler“ (1975). Es sind die großen Traditionen des europäischen Kunstfilms, die Angelopoulos mit „Dust of Time“ am Leben zu erhalten versucht, mit Anspielungen auf Fellini und vor allem auf sein eigenes Werk, aus dem er nun Summen zieht („The Dust of Time“ bildet den Mittelteil einer geplanten Trilogie „Die Erde weint“).
Unweigerlich leiden die Figuren unter dieser Konzeption. Sie bleiben Träger einer Idee, die zum Teil unfassbaren individuellen Erfahrungen, die Menschen im Gulag, auf der Flucht, beim Wiedersehen mit ihren Lebensmenschen gemacht haben, erscheinen bei Theo Angelopoulos wie durch einen Schleier des Historischen. Es gibt nur selten einen Moment, in dem er versucht, ihn wegzureißen. Elenis Flucht ist einer dieser Momente, aber das bleibt eine Episode in einem Werk, das aufs Ganze geht und dem das Konkrete deswegen tönern wird.
■ „The Dust of Time“. Regie: Theo Angelopoulos. Mit Willem Dafoe, Bruno Ganz u. a. Griechenland/Italien u. a. 2008, 125 Min.