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„Ein Tanz auf der Rasierklinge“

Der 100-Meter-Sprinter Lucas Jakubczyk ist einer der Berliner Hoffnungsträger bei der Heim-EM. Im Weitsprung verliert er die Förderung, im Sprint macht er auf eigene Faust weiter. Ein Gespräch über nötige Systemreformen, Freiheit und Training im Schulkorridor

Interview Alina Schwermer

taz: Herr Jakubczyk, Ihre Wettkämpfe dauern etwas mehr als zehn Sekunden. Haben Sie da überhaupt Zeit zu merken, ob es gut läuft?

Lucas Jakubczyk: Man kriegt das schon mit. Aber es gab auch Rennen, da war bis 50 Meter alles schick, und ich dachte: Hm, das muss ich jetzt nur noch nach Hause bringen. Und dann geht es auf einmal nicht mehr voran, die Konkurrenten laufen an einem vorbei und es ist totaler Mist. Es ist ein Tanz auf der Rasierklinge.

Was spüren Sie denn im Idealfall?

Das Beste ist, wenn man beim Laufen nichts merkt. Man merkt nur, dass man schnell ist. Aber man denkt nicht: Warum läuft da einer vor mir? Der Gedanke macht dich langsamer. Das Beste ist, wenn man ins Ziel kommt und gar nicht weiß, was man gemacht hat.

Sie sind recht spät zum Sprint gekommen.

Ich habe mit sieben oder acht Jahren mit Fußball begonnen. Und nebenbei war ich bei Wettkämpfen in der Leichtathletik immer schon ganz gut. Ambitionierte Leichtathletik habe ich aber erst mit 15, 16 Jahren betrieben. Ich war eigentlich eher auf dem Trichter, Profifußballer zu werden.

Wirklich?

Ich war gar nicht schlecht im Fußball, es war recht erfolgversprechend.

Und warum ist nichts daraus geworden?

Die Mannschaft hat sich zerschlagen, der Trainer war nicht gut, ich hatte ein paar Probleme. Mein Fall ist schon sehr speziell, weil ich als Sprinter erst mit 27 Jahren großen Erfolg hatte.

Zwischenzeitlich waren Sie auch als Weitspringer erfolgreich.

Die Belastung im Weitsprung war offensichtlich zu hoch für meinen Körper. Von Jahr zu Jahr hatte ich immer wieder Probleme, keine verletzungsfreie Saison.

Waren Sie froh, den Weitsprung aufzugeben und zum Sprint zu wechseln?

Es war nicht so leicht, sich vom Weitsprung zu entfernen. Man hat da schon seine Passion. Das war Springen. Und wenn du dann weißt: Das kann ich jetzt nicht mehr machen, das ist mir sehr schwergefallen. Nur noch geradeaus laufen. Ohne Erfolg hätte ich den Sprint mit Sicherheit nach einem Jahr aufgegeben.

Wenn Sie heute die freie Wahl hätten: Sprint oder Weitsprung?

Aktuell würde ich tatsächlich beides machen. Vor zwei, drei Jahren hätte ich noch gesagt: Weitsprung.

Hatten Sie damals in der Übergangsphase Angst, dass es jetzt vorbei ist mit der Karriere?

Es gab schon früher Momente, wo es fast dazu gekommen wäre, dass die Karriere vorbei ist. Das war nichts Neues. Es gab ein, zwei Situationen, wo ich dachte: Das mache ich jetzt nicht mehr weiter. Ich hatte keine Freude mehr daran.

Warum haben Sie dann weitergemacht?

Es gab einen gewissen Lebenswandel bei mir: Ich war bis 2010 in der Sportfördergruppe bei der Bundespolizei. Ich habe erlebt, wie man dort immer aufs Neue liefern musste. Es war ein sehr hoher Stress. Was dazu geführt hat, dass die Leistungen oftmals ausgeblieben sind. Und ich habe sicherlich auch Entscheidungen getroffen, die einfach nicht richtig waren. Der Körper sagt irgendwann: Das machst du einmal mit mir, das machst du zweimal, aber beim dritten Mal kann ich nicht mehr.

Sie standen zu sehr unter Druck …

Ich bin, weil ich die Vorgaben nicht erfüllen konnte, aus der Förderung rausgefallen. Aber dann habe ich mir gesagt: Da geht noch was, da ist noch Luft.

Trotzdem war es ein Risiko, die Polizei zu verlassen. Sie ­hatten ein sicheres Einkommen.

Als ich die Entscheidung getroffen hatte, war es vernünftig gesehen nicht das Beste. Aber dieser Job, das war nicht ich. Ich habe mich befreit gefühlt. Deswegen konnte ich auch eineinhalb Jahre später sagen: Ich probiere es einfach mal mit Sprint. Keiner hat mir gesagt: Du musst dies oder das erfüllen. Das war ein einschneidendes Erlebnis.

Was halten Sie nach dieser Erfahrung vom Sportfördersystem?

Es hat Licht- und Schattenseiten. Für gewisse Sportarten sind Fördermaßnahmen sicher wichtig und essenziell. Aber man kann nicht jeden in ein System drücken und erwarten, dass es funktioniert.

Viele Sportler schätzen die Sicherheit.

Geld und Sicherheit ist Ansatz Nummer eins. Wir wissen, dass wir uns in einer Sportart befinden, wo wir nie großes Geld verdienen werden. Aber wenn man merkt, dass es nicht funktioniert, muss man es nicht auf Biegen und Brechen durchziehen.

Was müsste sich am System ändern?

Ich wünsche mir eine größere Vielfalt, was die Förderung angeht, und mehr Rücksicht auf Individualität. Wenn man nicht in diesen Förderungen ist, hat es Grenzen, und die Grenze ist oft: Wie finanziere ich mein Leben? Da muss viel mehr gemacht werden. Man ruht sich auf Systematiken aus.

Haben Sie das mal so angesprochen?

Nein, nicht direkt.

Warum nicht?

Mit den echten Entscheidungsträgern kommt man mehr als selten ins Gespräch. Und ich bin auch nicht das Sprachrohr. Bei mir stünde so was in der Zeitung rechts unten in der Ecke. Da gibt es andere Akteure, die wesentlich mehr wahrgenommen werden und sich kritisch äußern. Da wird auch viel getan.

Seit den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro arbeitet der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) an einer Sportreform.

Die Sportreform zeigt: Man will irgendetwas machen, aber mir kommt es so vor, als ob man überhaupt nicht weiß, was man da eigentlich macht. Wo man da eigentlich hinwill.

Aber wohin sollte der Sport überhaupt?

Mir wäre wichtig, dass der Sport insgesamt wieder eine andere Bedeutung in der Gesellschaft bekommt. Das fängt für mich im Schulsport an. Der wird immer mehr rausgedrängt. Ich bin selbst Nachwuchstrainer, und mir fällt es auf, dass von Jahr zu Jahr die koordinativen Möglichkeiten der Kinder weniger werden. Aber die Gesellschaft erzwingt das.

Wie meinen Sie das?

Es wird nur noch mit dem Smartphone durch die Gegend gelaufen. Die wenigsten Kinder wissen noch, wie ein Fahrrad funktioniert. Man wird immer weniger mobil. Das ist fatal für unseren Sport.

Gleichzeitig boomt Freizeitsport, Sport in der Natur, und auch Fußball. Warum profitiert die Leichtathletik nicht?

Die Leichathletik-EM und Berlin

Der Athlet Lucas Jakubczyk, 1985 in Plauen geboren, trainierte zunächst Fußball und Leichtathletik, spezialisierte sich dann auf Weitsprung. 2004 kam er nach Berlin und im Rahmen des Sportfördersystems an die Bundespolizeiakademie. Nach dem Ausscheiden aus der Förderung fokussierte er sich ab 2012 auf 100-Meter-Lauf.

Die Erfolge Jakubczyk wurde 2012 Deutscher Meister über 100 Meter. Mit der deutschen 4-x-100-Meter-Staffel gewann er bei den Europameisterschaften 2012 und 2014 die Silbermedaille und 2016 die Bronzemedaille; bei der WM 2013 wurde er mit der Staffel Vierter. Im Einzelwettbewerb erreichte er bei der EM 2014 den fünften und bei der Hallen-EM 2015 den sechsten Platz. Jakubczyk ist zweifacher Olympiateilnehmer.

Die Leichtathletik-EM findet vom 7. bis zum 12. August in Berlin statt. 1.500 Athleten aus über 50 Nationen messen sich im Olympia­stadion in verschiedensten Disziplinen wie Hammerwurf, Hochsprung oder Sprint. 47 Disziplinen sind vertreten. Tickets gibt es ab 15 Euro für eine Qualifikations-Session und ab 25 Euro für eine Final-session. Mehr Infos unter www.berlin2018.info

Die großen Player wie Fußball ziehen Aufmerksamkeit, aber die Leichtathletik bekommt viel zu wenig. Im Vergleich zu anderen Sportarten haben wir es aber noch gut.

Viele Vereine klagen, dass die langen Schulzeiten ihnen den Nachwuchs nehmen.

Die meisten Kids bei mir kommen direkt aus der Schule ins Training. Es geht immer nur darum: Wie komme ich so schnell wie möglich von A nach B? Man merkt, dass die Ruhe, Ausgeglichenheit, Freiheit abhandenkommen. Für die Leichtathletik ist das bedenklich, was da mal an Talenten nachkommen könnte.

Haben Sie selbst denn Ruhe und Ausgeglichenheit noch erlebt?

Ich definitiv. Ich hatte eine sehr behütete, glückliche Kindheit. Aber ich bin auch nicht in Berlin groß geworden. Ich komme aus einem kleinen Dorf mit knapp 1.500 Menschen. Ich hatte einen Schulweg von 50 Metern und bin um 13 Uhr nach Hause gekommen. Wenn ich das mit dem vergleiche, was heute läuft, ist es für mich eine andere Welt. Und das ist erst zwanzig Jahre her.

Warum sind Sie nach Berlin gekommen?

Ich bin 2004 des Sports wegen gekommen. Bis dahin war mein Leben nicht unbedingt professionell für den Sport ausgerichtet. Ich hatte eine Aschenbahn, auf der ich bis zu meinem 19. Lebensjahr trainiert habe. Manchmal haben wir in einem alten Schulkorridor trainiert.

Krasse Bedingungen.

Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich Leistungssport sicherlich mit zwanzig Jahren nicht mehr machen können.

Stattdessen wurden Sie Topsprinter. Was war der bisher schönste Moment Ihrer Karriere?

Das Schönste, worauf ich auch am meisten stolz bin, war die EM 2014 in Zürich, als ich Fünfter im 100-Meter-Sprint wurde. Und die EM-Medaillen mit der Staffel: zweimal Silber, einmal Bronze. Aber es gibt auch genug Dinge, an die ich mich nicht gern erinnere. Ich habe es irgendwann für mich gelernt und akzeptiert, dass es auf- und abgeht. Man muss nur schauen, dass die Täler nicht ganz so tief werden. Ich bin damit immer ganz gut klargekommen.

Was ist Ihr Ziel für die EM?

Ich würde gerne wieder ins 100-Meter-Finale laufen und eine Medaille mit der Staffel holen. Nach der letzten Saison mag das für einige sicher utopisch klingen, weil die wirklich scheiße war. Aber ich habe einen neuen Trainer, wir haben einiges geändert, und ich will an die Leistungsstärke von 2014 anknüpfen.

Was bedeutet die Heim-EM für Sie?

Wenn ich bei mir auf dem Balkon stehe, höre ich das Olympiastadion, wenn eine Veranstaltung ist. Ich habe die letzten Winter im Olympiastadion trainieren müssen, weil die Halle von Geflüchteten belegt war. Ich verbinde das Training mit diesem Ereignis, mit diesem Ort. Es ist das schönste Leichtathletik-Stadion weltweit.

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