: Spiegelung ohne Hybris
NATIONALE SYMBOLIK Peter Reichel zeigt das Ringen um ein symbolisches Vokabular vom Hambacher Fest bis zur Gegenwart
VON STEFAN REINECKE
Am 1. August 1914 wird in Baden bei Wien der Ausbruch des Krieges gefeiert. Mit Deutschland zusammen zieht Österreich-Ungarn in den Krieg gegen Russland, Frankreich, England. Elias Canetti, damals neun Jahr alt, erlebt, wie die Menschen in Wien begeistert und siegesgewiss die deutsche Kaiserhymne „Heil dir im Siegerkranz“ anstimmen. Elias, der in London groß wurde, singt kräftig den Refrain „God save the queen“ mit. Die Wiener verprügeln den Jungen fast, der nicht weiß, dass die englische und die deutsche Hymne die gleiche Melodie haben.
Diese Episode wirft ein Schlaglicht auf die verwickelte, teilweise längst vergessene Geschichte nationaler Symbolik. „God save the king“ stammt aus dem 18. Jahrhundert, als der englische König George II. auch Kurfürst in Hannover war. Im frühen 19. Jahrhundert wird zu dem eingängigen „God save the queen“-Choral in vielen deutschen Kleinstaaten Patriotisches angestimmt, etwa „Gott segne Sachsenland“ in Dresden, und später eben die Kaiserhymne.
Peter Reichel, Spezialist für politisch-historische Symbolik, spannt einen weiten Bogen über knapp 200 Jahre vom Hambacher Fest 1832 bis zum Berliner Holocaust-Mahnmal. Er erzählt, souverän, eloquent mit Sinn fürs Anekdotische, die Geschichte der Paulskirche, des Reichstags und der schwarz-rot-goldenen Fahne, von Wahrzeichen und Gebäuden. In den Kämpfen um Hymne, Nationalfeiertag und Denkmäler werden, wie in einem Relief, die Abdrücke deutscher Geschichte sichtbar, vor allem deren Fehlentwicklungen und Katastrophen.
Pars pro toto zeigt Reichel dies am Deutschlandlied, das Mitte des 19. Jahrhundert noch eine harmlose Sehnsuchtshymne jener war, die sich ein sanft modernisiertes, geeintes Deutschland wünschten. Es ist kein Revolutionslied wie die „Marseillaise“, aber erst recht kein imperialer Aufruf. Es bleibt, so Reichel, musikalisch „in der Tradition der Königshymne“. Zum Symbol aggressiver Weltmachtsfantasien wird es es erst gut 50 Jahre nach Entstehung, als die Deutschnationalen es im Wilhelminismus zum Kampfruf umwidmen.
Reichel zeichnet die Debatten vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, DDR und Westdeutschland bis ins Heute nach, ohne, was nahe liegt, ins Lexikalische abzudriften Vor allem gelingt es, die Debatten aus der Zeit selbst nachzuzeichnen und meistens den Feldherrnhügel der überlegenen Jetztperspektive zu vermeiden. Der rote Faden in „Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung“ ist der oft verlorene Kampf um ein brauchbares identitätsstiftendes symbolisches Vokabular, in dem sich das Kollektiv ohne Chauvinismus und nationale Hybris spiegeln kann. Die Helden dieses Buch sind daher meist pragmatische Sozialdemokraten und Männer der Mitte. Während Kaiser Wilhelm II. den Reichstag als „Reichsaffenhaus“ diffamiert, staucht der Sozialist August Bebel Genossen, die im Parlament Pfeife rauchen, mit Worten zusammen: „Der Reichstag ist kein Wirtshaus.“ In der Weimarer Zeit mühen sich Friedrich Ebert, Hermann Müller, der vergessene SPD-Mann Adolph Köster und Vernunftrepublikaner wie Gustav Stresemann eher vergeblich um ein verbindliches demokratisches Zeicheninventar. Es ist Spiegel der Schwäche der Weimarer Republik, dass es den Demokraten nicht gelingt, Schwarz-Rot-Gold als einzige deutsche Fahne durchzusetzen; das wilhelmische Schwarz-Weiß-Rot bleibt de facto zweite Nationalflagge und Symbol, dass der Chauvinismus 1918 keineswegs unterging. Willy Brandt ist letzte Sozialdemokrat, den Reichel in diese Reihe stellt. Sein Kniefall in Warschau 1970 im Gedenken an den von der SS niedergemetzelten Ghettoaufstand adelt er zum „wahren und kostbarsten Monument“ der Holocaust-Erinnerung, erhaben über alle sonstigen Versuche „der denkmalwütigen Deutschen.“
„Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung“ ist kenntnisreich und mitunter schillernd erzählt, pointenreich, meistens ausgewogen in den Urteilen. Meistens, aber nicht immer. An dem Reichtstag mit der Glaskuppel von Norman Foster, vielleicht dem Symbol deutscher Demokratie nach 1990, bleibt kein gutes Haar, ebenso wenig am Holocaust-Mahnmal. Klüger als solche schroffen Verdikte wäre 2012 sich Gedanken zu machen, wie und warum beides heute als Zeichen gelungener Demokratie funktioniert.
In diesen beiden Fällen mag man dem Autor das Apodiktische nachsehen. Das fällt bei dem monochromen Bild der DDR schwerer. Es gibt keinen Zweifel, dass die Geschichtspolitik der SED autoritär und instrumentell war. Doch das Totengedenken der Nazis und der DDR mit einem Gleichheitszeichen zu versehen – das ist mehr als nur unscharf. Die Gedenkstätte Buchenwald war parteikommunistischen Zwecken dienstbar – muss man sie deshalb mit NS-Kultstätten vergleichen? Es ist mehr als schade, dass der Gestus des Reflexiven, Abwägenden bei allem, was mit der DDR zu tun hat, einem verstockten Kalte-Krieg-Sound weicht.
■ Peter Reichel: „Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung“. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 381 Seiten, 29,90 Euro