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Archiv-Artikel

Entrückte des Widerstands

RAF Eine Zerrissene, die sich fremd geblieben ist: Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg erzählt in „Theres“ das Leben Ulrike Meinhofs als Puzzle

VON TIM CASPAR BOEHME

Was aber ist ein Mensch?“ Eine grundsätzliche Frage wie diese kann in literarischen Texten schon mal etwas pompös daherkommen. Wenn sie in Steve Sem-Sandbergs Roman „Theres“ über das Leben Ulrike Meinhofs auftaucht, steht sie in Klammern, als sollte ihr jegliches Pathos ausgetrieben werden. Zur Antwort erhält man knappe biografische Daten, die die anonymen Zeugen dieser Gegenüberstellung zu Protokoll geben, eingeleitet von der programmatischen Ansage: „Die Biografie eines Menschen kann man nur auf vorhandenen Fakten aufbauen.“ Derselbe Zeuge, der diese Überlegung äußert, merkt einige Zeilen später zur Radikalisierung Meinhofs an: „Man kann nicht sagen, wie es dazu kam.“

An diesen deskriptiven Vorgaben orientiert sich der schwedische Schriftsteller auch in seiner biografischen Collage über die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Meinhof. Der Schwierigkeit, einen Roman über die wohl rätselhafteste Deutsche der Nachkriegszeit zu schreiben, begegnet Sem-Sandberg mit Nüchternheit. Er schildert sachlich, ohne Anspruch auf historische Genauigkeit zu erheben, hält sich aber weitgehend an die Biografie Meinhofs.

Der Form nach ist „Theres“ jedoch alles andere als ein konventioneller historischer Roman. Quasi-biografische Passagen wechseln sich mit abstrakt-diskursiven Einschüben oder fiktiven Dialogen Meinhofs ab, in denen sie mit ihrem ehemaligen Ehemann und damaligen konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl oder ihrer (späteren) Mitstreiterin Gudrun Ensslin konfrontiert wird.

Passend zum fragmentierten Erzählstil zerfällt das Buch in Kapitel, deren Länge sich oft auf drei Seiten beschränkt. Bis in die Typografie wirkt der Text zersplittert, Fettgedrucktes ist gegen Kursives gesetzt, regelmäßig stehen einzelne Wörter und Phrasen in Versalschrift, „Zitate“ werden im Stile wissenschaftlicher Abhandlungen klein gedruckt. Mit sämtlichen Mitteln macht Sem-Sandberg seinen Lesern deutlich, dass er eine Zerrissene darstellen will, die sich und den anderen fremd geblieben ist.

Aller narrativen und grafischen Verfremdung zum Trotz fühlt man sich beim Verfolgen der Geschichte keinesfalls behindert. Sem-Sandberg schafft es ungeachtet der Sperrigkeit des Texts, dass man ihm bereitwillig auf seiner Suche nach dem „Menschen“ Ulrike Meinhof folgt. Vielleicht ist es gerade die distanzierte Kühlheit, das Auf-Abstand-Halten seiner Protagonistin, das den Text gelingen lässt. Der Autor will sich nicht in Meinhof „einfühlen“, er versucht bloß, ihren Weg nachzuzeichnen.

So skizziert er ein Bild der erfolgreichen kritischen Journalistin, die ein Unbehagen an ihrer bürgerlichen Existenz verspürt, mit einem Mann, der sie betrügt, und einer Lebensweise, bei der die Freude am Luxus im Widerspruch zum sozialen Engagement in ihrer Arbeit steht. Diese Ambivalenz ihrer eigenen Haltung, der distanzierte Blick auch auf ihre zukünftigen RAF-Verbündeten, ist eine der Konstanten im Bild Meinhofs, das sich in „Theres“ allmählich aus Splittern zusammenzusetzen beginnt. Ulrike Meinhof als eine Entrückte des Widerstands – so ist auch der Titel des Buchs zu verstehen, für den Sem-Sandberg einen Spitznamen Gudrun Ensslins für Meinhof übernimmt – in Anlehnung an die heilige Teresa von Ávila, der Mystikerin, die sich für ihre heftigen Visionen einst vor der Inquisition erklären musste.

Zu den dichtesten Momenten zählt das Kapitel über BKA-Chef Horst Herolds Spurensuche, wie er assoziative Verknüpfungen zwischen dem auf einem Berliner Stadtplan markierten Ortsnamen Wannsee, Kleists „Michael Kohlhaas“ und Meinhofs revolutionärer Gesinnung herstellt oder scheinbar abgehoben über die begriffliche Nähe von Inseln, Isolation und Isolationshaft meditiert. Hier zeigt sich Sem-Sandberg gedanklich auf der Höhe Meinhofs, ohne sich anzubiedern.

In Schweden erschien das Buch schon 1996. Doch bis zum Erscheinen seines historischen Romans „Die Elenden von Lodz“ im vergangenen Jahr war Sem-Sandberg hierzulande praktisch unbekannt. „Theres“ kommt daher etwas spät, aber nicht zu spät, um diesen seltsamen, aber sehr geglückten Roman zu entdecken.

Steve Sem-Sandberg: „Theres“. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 391 Seiten, 22,95 Euro