: Schwarz-Rot. Die letzte Chance?
JA
Die SPD hat sich längst erneuert und taugt zur Opposition gegen die bürgerlichen Globalisierungseliten nicht mehr. Und es gibt genug Positionen, um sich in einer großen Koalition zu profilieren.
Also gut: Ich hoffe auf die große Koalition. Davon verspreche ich mir allerdings weder gouvernementale Wunder noch politische Harmonie. Meine Motive sind ganz prosaisch: Die Zahl der Vetomächte ist im politischen System und in der Verbändestruktur Deutschlands so groß wie nirgendwo sonst in dieser Welt. Insofern würde eine von den ökonomischen Eliten propagierte Konfrontationsstrategie der jeweiligen Zentralregierung die zahlreichen Gegenmächte lediglich in die Obstruktion jagen. Da die politischen Eliten das natürlich wissen, suchen sie auch nicht die schroffe Auseinandersetzung, sondern die stille informelle große Koalition. Weil aber von deren Erfolgen allein die Zentralregierung profitierte, war die jeweilige große Oppositionspartei durchweg nur an einem blassen, denkbar kleinen Kompromiss interessiert. Daher sollte man an Stelle der informellen besser eine formelle große Koalition setzen, damit beide Volksparteien gleichermaßen am intelligentesten größten Nenner interessiert werden.
Doch wäre eine solche juniorpartnerschaftliche Rolle nicht der politische Tod der sowieso schon siechen SPD? Nicht wenige professionelle Interpreten wie auch viele Sozialdemokraten setzen auf Wandel und Erneuerung der SPD in der Opposition. Doch hat sich diese Transformation längst schon vollzogen. Die Partei hat es sich nur noch nicht hinlänglich bewusst gemacht. Wenn eine innersozialdemokratische Leistung von Schröder und Müntefering historisch bestehen bleibt, dann ist es die, dass sie die traditionelle und fatale Kluft in ihrer Partei zwischen Phrase und Praxis geschlossen haben. Das war lange anders. Der frühere programmatische Traum von einer besseren, konfliktfreien Gesellschaft blamierte stets jede Regierungspraxis, ließ die exekutiven Anstrengungen als gering, ungenügend, banal erscheinen.
Doch hat sich die SPD als Regierungspartei in den letzten Jahren von den holistischen Entwürfen ihrer Vergangenheit gelöst. Sie ist nicht mehr die Partei eines demokratischen Sozialismus, sie hat ihre Herzkammern keineswegs mehr zwischen Dortmund und Oer-Erkenschwick, ihre Funktionäre riechen nicht mehr nach Maschinenöl oder Kohlenstaub. Die Partei ist zur Agentur ressourcenstarker Arbeitnehmer in der Mitte der Wissensgesellschaft geworden. Zu einem harten Konflikt mit den bürgerlichen Globalisierungseliten ist sie gar nicht mehr fähig. Sie sollte aber auch nicht so tun. Ebendas aber – dieser lächerliche Scheinradikalismus pausbäckiger Aufsteiger – würde im wirkungslosen Raum rhetorischer Opposition ziemlich sicher gedeihen. Es wäre nicht einmal die traditionelle sozialdemokratische Welt, die sich da restaurierte, es wäre alles ein pawlowhafter Oppositionismus aus purer Verlegenheit.
Ich war nie ein Freund der Agenda 2010. Doch denke ich in der Tat, dass die Sozialdemokratie im Oktober 2005 nicht den Herbst 1997 nachspielen sollte. Dafür hat sich die SPD im Kern – sozial, personell, programmatisch – und unter allzu großen Schmerzen verändert. Sie ist jetzt eine gemäßigt soziale, gemäßigt linksliberale, gemäßigt kosmopolitische Partei der keineswegs kleinen, gemäßigt halblinken Mitte der deutschen Gesellschaft. Und die erwartet keine Protestkundgebungen, sie will durch profilstarken Realismus überzeugt werden. Profil, das belegbar und überprüfbar ist, erhält man aber nur in der Regierung. Ebendeshalb sollten die Sozialdemokraten in den wenigen Tagen, die noch verbleiben, zielstrebig die große Koalition anpeilen. In einer aktuellen großen Koalition gäbe es für die Sozialdemokraten von der Infrastrukturpolitik über die Familienpolitik bis zur vorschulischen Bildungspolitik genug politische Positionen der Abgrenzung und Eigenprofilierung. Denn im Grunde ist die Union allein auf eine deregulierende Wirtschaftspolitik vorbereitet.
Im Übrigen: Eine große Koalition bietet die Möglichkeit, dass gerade die sozialdemokratische Generation nach Schröder genug Raum für eine solche politische Kreativität vorfindet. Denn der Disziplinierungszwang von knappen Mehrheiten entfällt. Nie besaßen Parlamentarier deshalb in der bundesdeutschen Geschichte einen derart großen Spielraum wie zwischen 1966 und 1969, der Zeit der letzen großen Koalition. Noch lange zehrte der Parlamentarismus von diesem Zuwachs an Selbstbewusstsein seiner Abgeordneten. Übrig geblieben ist davon heute nicht viel, da gerade die jungen sozialdemokratischen Abgeordneten unter dem mitunter hysterisch hochgepeitschten Druck einer „eigenen Kanzlermehrheit“ auf Linie gebracht wurden. In einer großen Koalition könnten sie dagegen ihr Projekt einer sozialen Chancengesellschaft fortentwickeln und zugleich dem Praxistest ausliefern. FRANZ WALTER
NEIN
Die SPD ist heute für eine große Koalition in einer denkbar schlechten Verfassung, personell wie programmatisch. Müntefering ist entwertet, in grundlegenden politischen Fragen herrscht keine Klarheit. Für eine schnelle Erneuerung muss die SPD in die Opposition.
Die SPD kann die große Koalition nicht propagieren: dann verliert sie durch Demobilisierung noch mehr. Sie kann sie aber auch nicht verhindern, wenn der arithmetische Zwang keine Alternative lässt (eine Linkskoalition will keine Partei). Selbst das Paradox arbeitet gegen die SPD: Je besser sie bei der Wahl abschneidet, desto wahrscheinlicher wird die große Koalition.
Bleibt, emotionslos, die Frage nach Voraussetzungen und Wirkungen. Es ist alles ganz anders als 1966. Damals war die große Koalition in ihren Ergebnissen und ihrer Wirkung für den weiteren Aufstieg der SPD ein Erfolg. Die Partei hatte sich mindestens sechs Jahre lang auf die große Koalition vorbereitet: personell, programmatisch, strategisch. Eine geschlossene, politisch kohärente Führung. Das seit 1959 entwickelte Programm innerer Reformen, eine zeitgemäße Wirtschaftstheorie im Rücken. Mit Herbert Wehner einen Strategen des Machtwechsels durch Anpassung und große Koalition als notwendigen Durchgang. Die SPD war bereit – und selbst damals mochten nur wenige Sozialdemokraten die große Koalition. Obwohl es in erheblichem Maße Konsens zwischen beiden Parteiführungen gab.
Grundlegend anders auch: Es existierte keine linke Alternative im Parteiensystem. Verliererin des Elefantenbündnisses war damals die CDU/CSU. Sie kam so unsortiert und verschlissen aus der Vorgängerregierung wie heute die SPD.
Heute wäre eine große Koalition etwas völlig anderes, und die Hauptverliererin hieße SPD. Es wäre ein Konfliktbündnis von vornherein. Entgegen ihrer Laufrichtung würden zwei Parteien zusammengezwungen, die gerade aus einer „Schicksals“- oder „Richtungs“-Wahl kommen. Was auch immer harmoniesüchtige Teile der Wählerschaft auf der Suche nach einem bundesrepublikanischen Wilhelminismus („Ich kenne keine Parteien mehr …“) gut fänden, für die Parteien wäre es ein ungewolltes Bündnis. Ein Aggressionsobjekt.
Die SPD ist heute in einer denkbar schlechten Verfassung. Sie hat keine Führung mit hinreichender Autorität für eine große Koalition. Schröder geht, Müntefering ist entwertet. Seit er Schröder bei dessen Schnapsidee Vertrauensfrage nicht in den Arm fiel – jener 22. Mai 2005 –, meinen viele Sozialdemokraten, er sei doch nur Generalsekretär, nicht Parteivorsitzender. Auch ein Vizekanzler Steinbrück könnte das Abdriften der Partei nicht verhindern. Die SPD würde in einen Minister- und einen Oppositionsflügel gespalten.
Auch programmatisch ist bei der SPD nichts geklärt. Schröders Versäumnis, mit der Partei zusammen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik neue Grundlagen zu entwickeln, wirkt nach. Ehe sie keine Wirtschaftsphilosophie erarbeitet hat, die einen Sozialstaat des 21. Jahrhunderts tragen kann, ist sie nicht wirklich regierungsfähig. Und ein zweites Mal, wie 1998 mit Schröder und Lafontaine, sollte sie die Wähler nicht darüber täuschen, dass sie in sich bei grundlegenden Fragen keine Klarheit hergestellt hat.
Niemand ist heute in der Lage, die SPD in diesem Konfliktbündnis mit starken Polarisierungstendenzen strategisch zu steuern. Heute gäbe es zwei Gewinner einer großen Koalition: CDU/CSU und Linkspartei. Die SPD würde zwischen beiden zerrieben und in den Turm der 20 Prozent geworfen.
Man kann abwägen zwischen zwei Herausforderungen: Regeneration in der Opposition oder Verschleiß in der Regierung. Nicht mit letzter Sicherheit lässt sich sagen, dass es der SPD in der Linkskonkurrenz der Opposition besser ginge als in einer Regierung der großen Koalition. Sicher aber ist, dass die SPD die notwendige Regeneration nicht in einer großen Koalition zustande bringt, im Gegenteil: Das Zwangsbündnis würde die Erneuerung nur verlängern.
Wer der SPD nichts Gutes will, der wünscht ihr eine große Koalition. Einer (mittleren) Katastrophe kann man mit einer „Taskforce Große Koalition“ begegnen, die die Konturen einer neuen SPD vorbereitet. So könnten die negativen Folgen eines Bündnisses begrenzt werden, das sie als ganze nicht will. Sie bildet in sich eine Art große Koalition, die nicht die Zukunft, aber das Überleben organisiert. Und die das Positive forciert, das dabei auch für Partei und Gesellschaft abfallen könnte: eine Föderalismusreform, die den Namen verdient, großflächiger Subventionsabbau, die Erhaltung rot-grüner Innovationen.
Große Koalitionen sind Zeiten des Übergangs. Für ihre Verlierer aber sind es Zeiten des Abgangs. CDU/CSU verschwanden 1969 für 13 Jahre in der Versenkung. JOACHIM RASCHKE