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Archiv-Artikel

Gefährlicher Verschiebebahnhof

EUROPÄISCHE UNION Viele Regierungen blockieren die Umsetzung von Regelungen, die sie eingefordert haben. So bleibt jeder auf sich selbst angewiesen

Frontex macht Front

Statistik: Laut UNHCR sind im Jahr 2008 etwa 67.000 Menschen illegal aus Afrika und Asien nach Europa eingereist. Davon sind etwa 37.000 Menschen in Italien gelandet, und zwar die meisten auf der kleinen Insel Lampedusa. In Malta kamen im vergangenen Jahr nur 4.331 Flüchtlinge an.

Dunkelziffer: Wie viele Menschen genau auf dem gefährlichen Seeweg nach Europa bisher ums Leben gekommen sind, lässt sich nur schätzen. Die niederländische Organisation United for Intercultural Action hat die bekannt gewordenen Todesfälle seit 1992 dokumentiert und ist auf die Zahl von 9.000 gekommen. Die Dunkelziffer liegt vermutlich sehr viel höher.

■ Frontex: Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex) wurde 2004 als EU-Gemeinschaftsagentur gegründet. Etwa 6.000 Menschen wurden von ihr im vergangenen Jahr abgefangen.

Wenn die EU-Regierungen gemeinsame Beschlüsse zur Flüchtlingspolitik fassen, werden Humanität und Solidarität großgeschrieben, zumindest auf dem Papier. Oberstes Ziel sei es, das Leben der Menschen zu retten, die sich auf den gefahrvollen Weg begeben haben. Staaten mit europäischen Außengrenzen müssten entlastet werden. Die EU-Kommission wird in regelmäßigen Abständen aufgefordert, sich neue Gesetze auszudenken, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Zuletzt kam sie dieser Bitte vergangene Woche nach, als sie strengere EU-weite Mindeststandards für Asylverfahren vorschlug.

So weit die Theorie. In der Praxis scheitern die schönen Pläne meist am Geld und an der mangelnden Bereitschaft, die Lasten wirklich gemeinsam zu tragen. Dieselben Regierungen, die den Flüchtlingsstrom mit EU-Gesetzen kanalisieren wollen, blockieren hinterher ihre Umsetzung. So ist eben doch wieder jedes Land auf sich gestellt und versucht Flüchtlinge möglichst loszuwerden, bevor sie das eigene Territorium betreten haben. Denn nach geltendem EU-Gesetz ist das jeweilige Aufnahmeland für die gesamte Prozedur und die Versorgung zuständig.

Flüchtlinge müssen dort versorgt werden, wo sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Auf See, wo die Hoheitsgebiete nicht so leicht zu erkennen sind wie an den Landgrenzen, hat sich deshalb ein lebensgefährlicher Verschiebebahnhof entwickelt. Das kleine Malta, das pro Kopf der Bevölkerung EU-weit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, drängt die Boote möglichst in italienische Gewässer ab. Italien behauptet gern, die Libyer seien in Wahrheit zuständig.

Innenkommissar Jacques Barrot ist überzeugt, dass nur in Zusammenarbeit mit den Durchreiseländern das Problem gelindert werden kann. Statt bilateraler Rücknahmeabkommen, wie es sie schon zwischen Italien und Libyen gibt, müsse die EU als Ganzes die Verhandlungen mit den Transitländern führen und vor allem auch das UN-Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen einbeziehen. Solche Gespräche sollten auch mit der Türkei geführt werden, um die griechischen Flüchtlingslager zu entlasten und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Menschen in der Türkei ordentlich behandelt würden.

Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist ein Versuch, für besseren Lastenausgleich zu sorgen. Seit ihrer Gründung vor vier Jahren ist das Budget ständig aufgestockt worden – von 6,2 Millionen Euro 2005 auf 78 Millionen in diesem Jahr. Frontex koordiniert die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Grenzkontrolle und soll mittelfristig allein für den Schutz der EU-Außengrenzen zuständig werden. Sie hilft Mitgliedstaaten dabei, ihre Grenztruppen auszubilden und für einheitliche Standards zu sorgen. Sie analysiert Wanderungsbewegungen und erstellt auf dieser Grundlage Risikoanalysen für bestimmte Regionen. Vor allem aber vermittelt sie technische und personelle Hilfe wie Schiffe, Helikopter oder Rechtsexperten, die besonders bedrängten Mitgliedstaaten von anderen zur Verfügung gestellt werden.

In die Schlagzeilen ist Frontex immer wieder geraten, weil auch die Koordination von gemeinschaftlichen Abschiebeaktionen zu ihren Aufgaben gehört. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Frontex vorgeworfen, im Juni Flüchtlinge nach Libyen abgeschoben zu haben. Diesen Vorwurf allerdings weist die Agentur zurück. „Frontex legt Wert auf die Feststellung, dass Helikopter in gemeinsamen Operationen nur die Aufgabe haben, einen Abschnitt zu überwachen, aber nicht an Abschiebungen beteiligt sind.“

DANIELA WEINGÄRTNER