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Archiv-Artikel

berliner szenen Das Alphabet der Stadt

I wie Invalidensiedlung

Ein angenehmer Geruch nach Brathähnchen überfliegt den Ludolfingerplatz. Nette Gesichter lächeln von Wahlplakaten. Hier in Frohnau – nach Eigenwerbung Gartenstadt und ehemalige Opernsängerkolonie – scheint die Welt noch in Ordnung. In der Umgebung viel Wald und in dem Wald viele schnuckelige Häuschen.

Vor der Invalidensiedlung ragt ein gigantischer Funkturm aus dem Wald. Die Siedlung selbst muss man sich als groß angelegte Mischung aus Klinik und Kaserne vorstellen – alte, wuchtige Gebäude in ehrfürchtiger Stille. Die Häuser nummeriert und mit Namen seltsamer Städte versehen. Landshut, Hohenfriedberg, Moys. An Haus 23 hängt ein Schild mit einem nach unten weisenden Posthorn, das aussieht, als ob es spucken müsste. Leerung einmal täglich.

Die nördlichste Ecke Westberlins. Nur ein Schritt über die nicht mehr erkennbare Mauer und man steht in einem anderen Bundesland. Kommt man von da, grüßt Berlin als unglaublich schnödes Ortsschild. Dahinter gleich die ehemaligen Soldatenpflegeheime der Siedlung.

Plötzlich Leben: Madonna singt von einem Baugerüst herunter. Ein Mädchen auf einem Fahrrad lässt eine Münze fallen, vor ihr steht ein Tiefkühlwarenwagen der Firma Family Frost. Der Tanztee in der Hubertusklause muss ausfallen, weil heute das Zollorchester Berlin zu Gast ist. Ein Schild macht Werbung für ein Bestattungsunternehmen: „100 Jahre Bestattungen Schwarz“. Eine Dame kommt aus Brandenburg geradelt und sagt: „Warum regnet es, wenn ich eine kleine Runde drehe?“ Am Rand, hinter der Bushaltestelle, steht eine übersprühte Turnhalle. Aus dem Wald kommen Geräusche. Der Bus fährt alle 20 Minuten.RENÉ HAMANN