Ihren Tod nehmen sie recht gelassen

Unter der Erde sind wir alle gleich: In Robert Seethalers Roman „Das Feld“ erzählen die Toten vom Leben in einer fiktiven Kleinstadt

Seethaler, ein sehr sensibler Erzähler mit sehr großem Erfolg Foto: dpa

Von Katharina Granzin

Es ist merkwürdig, dass es tatsächlich einen großen Unterschied macht. Man sollte denken, dass, da doch jedes Erzählen ein Vergegenwärtigen von etwas Vergangenem bedeutet, es eigentlich egal sein könnte, ob die Personen, von denen eine Erzählung handelt, im Moment des Erzählens noch leben oder nicht. Aber das ist es nicht.

Im neuen Roman von Robert Seethaler reden die Toten selbst. Manche erzählen von ihrem Leben, manche auch von ihrem Sterben, andere von einzelnen erlebten Momenten. Eine kleine programmatische Rahmengeschichte, in welcher ein Mann den Friedhof seines Heimatortes besucht und sich vorstellt, die Toten würden aus ihrem Grab heraus sprechen, macht die besondere Erzählsituation deutlich. Die Ich-Erzähler dieses Romans sind alle tot. Und auch ihr Erzählen vergegenwärtigt sie nicht auf eine Weise, dass sie wieder lebendig würden. Was sie zu erzählen haben, ist für immer vorbei, und wir erleben es lesend nicht mit, wie wir es gewohnt sind, sondern nur noch nach.

In der Rückschau auf das niemals Wiederkehrende entsteht Stück für Stück, mit jeder der zahlreichen Einzelgeschichten ein bisschen mehr, eine Art kollektives Porträt der Verstorbenen einer Kleinstadt. Oder besser: einer sehr, sehr kleinen Stadt, denn in Paulstadt gibt – oder gab, je nachdem – es wirklich nicht viel. Einen Blumenladen, eine Wirtschaft, einen ­Kiosk, zwei Schuhgeschäfte, einen Autosalon, einen Park, eine Kirche, und den Friedhof, der „das Feld“ genannt wird, denn das war er zuvor gewesen.

Auch die Kirche ist nicht mehr, was sie einmal war, denn der Pfarrer hat sie niedergebrannt. Er ist einer der Toten, die aus dem Grab heraus sprechen, und seine Geschichte ist eine der traurigsten, eine Erzählung von fundamentaler Einsamkeit und verworrenen Erlösungsfantasien. Am Rande kommt er hier und da auch in den Erzählungen der anderen vor; denn dass ein Pfarrer die Kirche anzündet, ist ja ein großes Ereignis. Er bleibt aber eine kleine, nicht weiter hinterfragte Fußnote, so wie die meisten Menschen, die hier und da flüchtig die Erzählungen der übrigen sprenkeln.

Man kennt sich, aber halt nicht gut. Und sich selbst kennt man womöglich auch nicht. Einer, der sehr häufig Erwähnung findet, ist ein gewisser Kobielski, der Besitzer des Autosalons. Als Arbeitgeber und wohlhabender Unternehmer scheint er omnipräsent im Ort, doch über ihn als Person erfahren wir rein gar nichts. Als Kobielski selbst an der Reihe ist zu sprechen, erzählt er lediglich, wie er eines Tages auf einer Bank saß und glücklich war.

Genau betrachtet, ist dieser kurze Abschnitt vielleicht der einzige Text im gesamten Buch, der von so etwas wie ganz einfachem Glück spricht. Es setzt sich das fragmentarische Bild eines Ortes zusammen, der so wenige Attraktionen zu bieten hat, dass die Dorfjugend sich auf dem Friedhof zu treffen pflegt – denn die teure Grabplatte des Bürgermeisters speichert so schön die Sonnenwärme.

Dieser Bürgermeister leugnet übrigens noch im Tod seine Mitverantwortung für einen Bauskandal, der drei Menschen das Leben gekostet hat – als Paulstadts Honoratioren einmal hoch hinaus wollten und auf untauglichem Bauland ein großes „Freizeitzentrum“ errichten ließen. Dass dessen große Kuppel in sich zusammengestürzt ist, weil sich im Boden ein Loch aufgetan hat, ist nicht minder symbolträchtig als die verbrannte Kirche. Der Mensch mag zum Himmel streben, so viel er will; es verschwindet am Ende doch alles wieder in der Erde. Da kommt es schließlich auch her.

Dieser Existenzialismus des Robert Seethaler ist auf eine sehr selbstverständliche Weise demokratisch

Ganz egal aber, wie ein Mensch gelebt hat und gestorben ist, alle haben hier das gleiche Rederecht. Der Existenzialismus des Robert Seethaler ist auf eine sehr selbstverständliche Weise demokratisch. Manche Schicksale berühren uns mehr als andere, manche Menschen sind uns sympathischer als andere, und natürlich ist es viel furchtbarer, wenn eine junge Person plötzlich stirbt, als wenn ein alter Mensch seinen Lebensweg in Ruhe zu Ende gegangen ist. (Dafür ist, rein literarisch gesehen, ein früher Tod auf jeden Fall die bessere Geschichte.) Aber all das ist allein unser Problem, das der überlebenden Lesenden. Die Toten selbst nehmen ihren Tod alle sehr gelassen. Und das ist vielleicht das Schönste und irgendwie Tröstliche an diesem großen kleinen Buch.

Ja, sicherlich ist „Das Feld“ – ungeachtet seines fast heiteren, oft milde ironischen Tonfalls – von einer melancholischen Grundstimmung durchzogen, wie sie uns Menschen angesichts der unentrinnbaren Endlichkeit allen irdischen Lebens nun einmal zu befallen pflegt. Aber letztlich teilt sich darin auch eine wunderbare Entlastung mit. Wie auch immer das Leben geglückt sein mag: Wenn es einmal vorbei ist, spielt das alles keine Rolle mehr.

Von der teuren Grabplatte profitieren dann die Nachgeborenen. Den Toten aber bleibt die unendliche Tiefenentspannung.

Robert Seethaler: „Das Feld“. Hanser Berlin, Berlin 2018, 240 Seiten, 22 Euro