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Schluss mit dem Geschlechterwahn!

Für Virginia Woolfs, Jahrhunderte und Genderidentitäten umspannende fiktive Biografie „Orlando“ verwandelt sich der Brauhauskeller in eine Seelenlandschaft – traumverhangen und wahr

Von Benno Schirrmeister

Geschlechterwahn gibt es wirklich: Tief prägt die Zwangsvorstellung, Menschen, Tiere und sogar Pflanzen wären säuberlich in männlich und weiblich aufzuteilen, den Alltag und das Leben. Das Sprechen, das Denken wird von dieser Ideologie so sehr beherrscht, dass manche sie sogar für natürlich halten – und derart irregeleitet die Infragestellung dieser schnöden Illusion mit wachsender Erbitterung bekämpfen: In dieser gesellschaftlichen Lage Virginia Woolfs „Orlando“ eine Bühne zu bieten, wie jetzt das Bremer Theater im Brauhauskeller, ist eine gute Entscheidung.

Denn dieser Roman, eine fiktive Biografie des gut Dreihundert Jahre umfassenden Lebens der proteischen Titelfigur, sprengt die Ketten der Männleinweiblein-Ideologie nicht. Er streift sie vielmehr ab mit leichter Hand wie einen klackernden Armreif, rollt sie quer über den Tisch und lässt sie lustig klimpernd zu Boden fallen – als Spielzeug für Kinder und Fantasten. Das macht „Orlando“ zum Buch der Stunde.

In eine wahre Seelenlandschaft haben Ausstatterin Nanako Oizumi und Tim Schultens magisches Licht dafür den Schlauch der Brauhauskellerbühne verwandelt. Nacheinander ist sie Nottingham Forrest, traumverhangener Dschungel und schwüles Treibhaus, bis sie schließlich doch hart zur mit Fundusgerümpel und altem Teppich zugeräumten Abstellkammer erwacht: Minimal invasiv – und doch mit kapitaler Wirkung, das ist große Bühnenkunst.

Das Gleiche lässt sich leider nicht von Franz-Erdmann Meyer-Herders Regie sagen. Denn wahr ist: Die ausgelassenen Kapriolen des Textes könnten zu falscher Opulenz verführen, zum Überspielen. Und möglicherweise hatte Meyer-Herder davor Angst. Jedenfalls lässt er Mathieu Svetchine mit seiner schier erdrückenden Textmasse ziemlich allein.

Mitunter wirkt es, als hätte er ihn mehr gebremst, als mit ihm darstellerische oder auch nur stimmliche Akzente zu entwickeln: Nur dort, wo sich Svetchine im Dickicht des Textes verhaspelt – was bei einem 90-Minuten-Solo nach minimaler Probenzeit unvermeidlich ist – und er den Versprecher annimmt und mit ihm improvisiert, dort bricht das durch, was Svetchine sonst auszeichnet: seine Spiellust und seine Gabe, damit in einem verrückten Detail eine neue Dimension der Figur zu erschließen und sie plastisch zu machen.

Meyer-Herder hingegen lässt ihn, was die Verständlichkeit schmälert, größtenteils hinter einer schicken afro-venezianischen Maske sprechen, während er sich in winzigen Schritten mit äußerst sparsamen Gesten vom Publikum weg ins Lointain bewegt. Im Kleid, kettenbehängt, durchaus anmutig, ja würdevoll, und mit dieser, leicht belegten Stimme, dem Svetchine-Sound:

Der Roman sprengt die Ketten der Männleinweiblein-Ideologie nicht. Er streift sie lässig ab wie einen Armreif

Schön ist es, sich dem zu überlassen. Bloß ist es dann, wenn’s so ohne Modulation daherplätschert, ohne die musikalischen Möglichkeiten des auch in der Übersetzung noch hochlyrischen Textes zu nutzen, bis zum Hindämmern leider nur ein Trippelschritt.

Ähnlich zweifelhaft sind die meisten dramaturgischen und inszenatorischen Entscheidungen der Produktion: Klar, über die Spielfassung eines voluminösen Romans lässt sich immer rechten. Immer fliegen irgendwelche Lieblingsszenen raus. Aber ob es wirklich schlau ist, den grotesken Anfang, die Exposition wegzulassen? Mit den ersten Worten von Kapitel eins lässt Woolf Orlando als jungen Adligen des 16. Jahrhunderts aus Langeweile auf einen an einem Dachsparren befestigten Schädel eindreschen, „the head of a Moor“, um genau zu sein: Ein besseres, drastischeres Bild so unbezweifelter wie komplett idiotischer weißer Männlichkeit kann es kaum geben. Ist es zu schroff fürs Theater?

Im Grunde kein schlechter Einfall ist es, Nadine Geyersbachs Stimme aus dem Off zu der Svetchines hinzutreten zu lassen, gerade durch die Ähnlichkeit ihrer Färbung. Auch spieltechnisch hätte das Band dem Solisten Erleichterung verschaffen können, Einsätze erzeugen, und den Maelstrom aus Sprache, Sinn und Lüsten zu gliedern vermocht. Doch hier dient es nur dazu, aus der Nummer rauszukommen: Statt einen Mensch-Maschine-Dialog zu ermöglichen, löst das Band bloß Svetchine als Sprecher ab – und dann Deckel drauf und Schluss. So bleibt’s am Ende ein zwiespältiger Abend: Ein Raum und ein Licht zum Träumen, ein Text der glücklich macht und befreit. Und ein Darsteller, der sich hemmen lässt – von einer Regie, die sich nicht traut.

Wieder am 27. und 28. 6., jeweils 20 Uhr, Brauhauskeller

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