: Du blasse Blume auf Sand
Nach fünfzig Jahren Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe und Vorzeigestadt Hoyerswerda bleibt kein Platz für Nostalgie. Es gibt ein neues Kraftwerk und leere, saubere Straßen. Wenn das Brigitte Reimann wüsste …
VON SUSANNE GÖTZE
„Es ist Sonntag in Schwarze Pumpe, in Schwarze Pumpe …“, sang der DDR-Rockpoet Gundermann. Doch heute ist Samstag und das Herz der Schwarzen Pumpe schlägt nur noch unregelmäßig und schwach und schon gar selten am Sonntag.
Das erste Mal seit dem ersten Spatenstich im größten Braunkohlekombinat der DDR vor fünfzig Jahren öffnet das 700-Hektar-Gelände bei Spremberg seine Tore für jedermann. Viel gibt es aber nicht mehr zu sehen. Im Trubel des „Tages der offenen Tür“ sucht man nach den Überbleibseln des Kombinats wie nach Ruinenresten im alten Karthago. Das Lausitzer Blasorchester spielt auf, die Besucher schaufeln Kartoffelsuppe und Bockwürste, der Bürgermeister hält eine Ansprache. Was ist übrig von der Legende Schwarze Pumpe?
Visuell wird dem Besucher kein Anlass gegeben, in nostalgische Stimmungen zu verfallen: Nur rund fünf bis sechs Prozent der Werksanlagen stehen noch und sind teilweise modernisiert. Von der gesamten Anlage sind nur noch die Brikettfabrik und Teile des Gaswerkes in Betrieb. Leere, grasbewachsene Flächen, Schutthaufen, zwei alte Kraftwerkstürme und die Kopfsteinpflasterstraßen erinnern vage an das technische Ausmaß und das alltägliche Leben von 15.000 Arbeitern in Schwarze Pumpe.
Der fast mystische Zauber von der Aufbruchstimmung, dem Idealismus und der Kameradschaft des Alltags, den Gundermann und die Schriftstellerin Brigitte Reimann der Nachwelt in ihren Liedern und Büchern über das Kombinat vermacht haben, scheint mit der Abrissbirne endgültig in Vergessenheit zu geraten: „Aber nein, es war gar nicht dramatisch oder romantisch oder sonst was, und ganz bestimmt hat sich keiner als Held gefühlt. Sie arbeiten die Nacht durch und schenken dem Staat einige tausend Tonnen guter Kohle, und hinterher gehen sie ein Bier trinken und unterhalten sich über tropfende Wasserhähne … Aber es ist doch was Besonderes, man kommt sich vor, als hätte man was Besonderes getan“, lässt Reimann ihren Held Nikolaus 1961 in ihrem Buch „Ankunft im Alltag“ sagen. Was war dieses Besondere an Schwarze Pumpe, das die Schriftstellerin so faszinierte, dass sie selbst mit Hand anlegte?
Sie war sicher nicht jene der staatsopportunistischen Intellektuellen, die sich blind der Partei verschrieben hatten – im Gegenteil. „Wir haben hier nicht nur gearbeitet“, beschreibt der Ex-Generaldirektor von Schwarze Pumpe Herbert Richter die Stimmung im Kombinat, „es war mehr als das – es war unser Betriebsstolz, der uns antrieb. Denn es hieß bei uns: Aber eins, aber eins das bleibt bestehen – die Schwarze Pumpe wird nie untergehen.“ Er sei mit seinen Arbeitern auf Du gewesen, ein „Sie“ habe es im Betrieb nicht gegeben. Viele Millionen Mark seien damals jährlich in Kultur und Sport geflossen, um ein Leben über die Arbeit hinaus zu gestalten. Schlussendlich ging es eben um eine Idee. In seiner Biografie „Lose Blätter – Visionen und Realitäten“ schreibt der ehemalige Direktor: „Wie lange wird es dauern, bis die Menschen auf der Welt denken, tun und sagen: – es ist nicht mein, es ist nicht dein, es ist unser – die Vernunft beherrscht die Welt. Es ist ein Traum, aber was sind Menschen ohne Visionen, ohne Träume? Wir wollten träumen!“ Von Träumen spricht heute keiner mehr.
„Fünf Minuten vor halb zehn wünschten wir, die Uhr blieb stehen“, beschrieb Gundermann seine harte Arbeit in der Kohle im Lied „Frühstück für immer“. Ab 1990 wurde das ewige Sitzen am Frühstückstisch für viele Kumpel zum Alltag. Was einst Schwarze Pumpe war, ist heute Industriepark Schwarze Pumpe. „Vattenfall – Partner der Region“ steht auf überdimensionalen Plakaten rund um das ehemalige Kombinat. Ein nagelneues Kraftwerk steht am Rande der verwüsteten Einöde. Hört man die Ansprachen der Lokalpolitiker und liest in den Broschüren der neuen Herren, wird mit Blick auf die Vergangenheit nur noch von Altlasten gesprochen. Bei der Eröffnungszeremonie zum „Tag der offenen Tür“ bekommen zwei Arbeiter „der ersten Stunde“ einen Blumenstrauß – damit ist die Geschichte abgehakt. Das Treffen der alteingesessenen Arbeiter habe man kurzerhand um drei Tage verschoben, um sie „der Öffentlichkeit vorzuenthalten“, schimpft ein Sprecher des Traditionsvereins Schwarze Pumpe. Andere nehmen das alles viel leichter und machen nicht viel „Gewese“ ums Vergangene. „Nur das, was auf dem Markt gebraucht wird, besteht,“ ist die Erklärung von Karl-Heinz Markgraf, Vattenfall-Verantwortlicher für die Beseitigung des Altbestandes. Er hat gut reden, er ist einer der wenigen Schwarze-Pumpe-Arbeiter, die es geschafft haben, auf das neue Pferd umzusatteln. „Sicher musste ich auch entlassen – dann hat man den Frust und die Trauer vieler zu spüren bekommen“, erzählt Markgraf etwas unsicher, zu seinen Kollegen hinüberblinzelnd.
Heute residieren achtzig Firmen in dem Industriepark – die meisten haben nichts mit Braunkohle zu tun. Die Kohle beschäftigte in Schwarze Pumpe vor der Wende an die 15.000 Menschen, 1992 waren es nur noch 6.600. Die heute ansässigen Unternehmen, das neue Kraftwerk von Vattenfall und die Papierfabrik zählen zusammen nur gut 3.500 Beschäftigte. Mit dem Niedergang des DDR-Vorzeigekombinats verlor auch das nahe liegende Hoyerswerda an Bedeutung. Die Stadt war ab 1955 parallel zum Werk aufgebaut worden und galt als zweite sozialistische Stadt der DDR – nach Stalinstadt, dem heutige Eisenhüttenstadt.
Von Berlin braucht man heute gute dreieinhalb Stunden mit dem Zug nach Hoyerswerda. Die Stadt scheint von der Außenwelt abgeschnitten. Ein ahnungsloser Tourist, der mit dem Auto in Richtung Lausitz fährt, wähnt sich noch fünf Kilometer vor Hoyerswerda-Neustadt in der hintersibirischen Einöde. Schließlich tauchen, versteckt hinter hochgewachsenen Kiefern und Laubbäumen, die ersten Plattenbauten auf. Die Wohnkomplexe WK IV, WK V, WK VI ziehen vorüber, an vielen Stellen sind die Häuser durchsichtig. Keine Gardinen, kein Licht, keine Möbel. Unbewohnt. Zwischen den Wohnblöcken steht ein im Stil der Sechziger errichteter Betonwürfel mit silbernen Stahlkappen, heute Karstadt. Daneben macht sich das Einkaufszentrum mit dem obligatorischen Döner-Stand am Eingang breit, an dem ein älterer Mann seine Zigarette raucht und ein Bier frühstückt.
Ansonsten sind die großzügigen Plätze im Schatten der Wohnkomplexe gespenstisch leer und sauber. Seit dem Niedergang des Kombinats Schwarze Pumpe hat die Einwohnerzahl in Hoyerswerda dramatisch abgenommen. Bis 2003 verließen rund 28.800 Einwohner die Stadt, fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Alt- und Neustadt zusammen. Kein Wunder bei fünfundzwanzig Prozent Arbeitslosigkeit. Der große Exodus setzte ab Mitte der Neunzigerjahre ein. Gab es von 1992 bis 1995 im Schnitt „nur“ rund 1.300 Fortzügler, lag der Mittelwert 1996 bis 2001 schon bei 2.300. Der viel zitierte Gundermann’sche Ausspruch: „Hoy Woy, dir sind wir treu“ zählt heute nicht mehr. Vielmehr scheint der Fluch des Baggerfahrers und Rockpoeten an anderer Stelle, Hoyerswerda sei eine „Scheißstadt“, aktuell.
Als Brigitte Reimann 1960 nach Hoyerswerda zog, war die Stadt voller Leben. Nach zwei Wochen schrieb sie jedoch frustriert ins Tagebuch: „Diese ganze Stadt H. war mir unsympathisch in ihrer aufdringlichen Neuheit; sie hat keine Tradition, keine Atmosphäre, sie ist nur modern. Gewiss ist das nicht ohne Romantik – aber es ist ein Ding, für einen Tag schwärmerisch besichtigend durch die Straßen zu wandeln, und es ist ein ander Ding, selbst in dieser Stadt zu wohnen, als einer unter Tausenden.“ Für unzählige Arbeiterfamilien bot die „unromantische“ Stadt aber Vorteile: moderne Wohnungen, niedrige Mieten und eine sichere Arbeitsstelle. Die Trostlosigkeit der Wohnkomplexe beflügelte hingegen die Fantasie der Schriftstellerin Reimann, für die der Sozialismus eben nicht ein Synonym für graue Plattenbauten war. Sozialismus sollte nicht grau und langweilig, sondern lebendig, menschlich und bunt sein.
„Stell dir vor, du entwirfst eine ganze Stadt mit hundert Parks, mit Plastiken auf jedem Rasen und Häuser … Träume aus Beton und Glas … und in jeder Wohnung Sonne und Himmel“, schwärmt Reimanns Hauptfigur Recha in „Ankunft im Alltag“. Aus der jungen Praktikantin entwickelt Reimann in ihrem letzten Roman „Franziska Linkerhand“ die leidenschaftliche Architektin Franziska, die allmählich im wirklichen Alltag der DDR ankommt: im Kampf von Idealismus und Veränderungswillen gegen Dogmatismus und Kleinbürgerlichkeit.
Während die Neustadt zu DDR-Zeiten expandierte, verwahrloste der historische Stadtkern. Heute ist es genau umgekehrt: Die Altstadt wurde gesundgepflegt, die Neustadt steht leer und wird abgerissen. Jenseits der Schwarzen Elster, die Alt- von Neustadt trennt, sind fast alle Häuser saniert, die Straßen frisch geteert, das Museum herausgeputzt und auf dem sonst verlassenen Marktplatz sitzt eine Hochzeitsgruppe, deren Musik in die einsamen Gassen schallt. Ein Anblick aus dem Bilderbuch – nur für wen? „Vor der Wende ham wa ja och gelebt“, sagt ein älterer Mann auf die Frage, was sich für ihn hier seit 1989 geändert hat. Er wohnt nun in der Altstadt und freut sich über die Sanierungen. Warum hier alle wegziehen, kann er nicht verstehen – jetzt, wo es schön wird. Doch auch ein noch so schönes Frühstück wird zum schalen Alltag, wenn es ein Frühstück für immer ist.
SUSANNE GÖTZE, 25, ist taz-Praktikantin und lebt als freie Autorin in Berlin. Ihr Interesse für Hoyerswerda wurde von der Schriftstellerin Brigitte Reimann geweckt