: Nazi-Prozess beginnt mit 60 Jahren Verspätung
KRIEGSVERBRECHEN 88-jähriger ehemaliger SS-Mann wegen Morden in den Niederlanden vor Gericht
BERLIN taz | Vor 60 Jahren, im Oktober 1949, wurde Heinrich Boere zum Tode verurteilt – in Abwesenheit. Gestern stand der mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher zum ersten Mal vor einem Gericht. Vor dem Landgericht Aachen wirft die Staatsanwaltschaft dem 88-Jährigen vor, als Mitglied eines SS-Kommandos 1944 in den Niederlanden drei Menschen ermordet zu haben.
Der in den Niederlanden aufgewachsene Boere soll Teil eines Mordkommandos gewesen sein, bei dem die Nazis als Revanche für Aktionen des Widerstands Zivilisten töteten. Die Aktionen, bei denen insgesamt etwa 50 Menschen starben, trugen den Codenamen „Silbertanne“.
Das aus jeweils zwei SS-Männern bestehende Kommando ging immer gleich vor. Aus bestehenden Listen wurden die Namen der Todeskandidaten herausgesucht. Ein Wagen mit gefälschten Nummerschildern brachte die Mörder zum Ort. Dort sprach einer das Opfer an und fragte nach dessen Namen. Darauf wurde der Mann erschossen. Waren Zeugen anwesend, zwangen die Täter die ausgesuchten Menschen in ihren Wagen, täuschten später eine Panne vor und töteten sie. So starben 1944 der Apotheker Fritz Bicknese in Breda, der Fahrradhändler Teunis de Groot aus Voorschoten und Frans Willem Kusters in Wassenaar. Alle drei galten den Nazis als deutschfeindlich – mehr brauchte es nicht. Die Opfer hatten keine Ahnung, weshalb sie sterben mussten.
Boere steht offenbar zu seinen Taten: „Man sagte uns, es handele sich um Partisanen, um Terroristen. Wir dachten, wir täten das Richtige“, sagte er vor zwei Jahren einem Reporter.
Dass der SS-Mann erst seit gestern vor Gericht steht, ist eine Folge unglaublicher Ignoranz und Schläfrigkeit der deutschen Justiz. Boere geriet nach dem Krieg in den Niederlanden in Haft, konnte aber 1947 flüchten. Er kehrte in seinen Geburtsort Eschweiler zurück, arbeitete unter seinem richtigen Namen als Bergmann und blieb trotz des holländischen Urteils unbehelligt. Erst 1980 beantragten die Niederlande seine Auslieferung, die ein Gericht aber verwarf. Die Begründung: Boere könnte durch seinen freiwilligen Eintritt in die SS die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt haben. Die Dortmunder Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen kam später zu dem Schluss, bei den Morden habe es sich juristisch um legale Tötungen gehandelt.
Erst vor zwei Jahren kam wieder Bewegung in die Angelegenheit. Die Dortmunder ermittelten erneut und kamen zu anderen Schlussfolgerungen. Im Jahr 2008 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen dreifachen Mordes. Da lebte Boere längst in einem Altersheim. Ein Gutachter attestierte ihm ein schweres Herzleiden – Boere galt als verhandlungsunfähig. Es bedurfte eines weiteren Urteils vom Juli dieses Jahres, wonach sein Gesundheitszustand sich gebessert habe, bis der nun angelaufene Aachener Prozess terminiert werden konnte.
Boere verfolgte die Verhandlung am Mittwoch im Rollstuhl. Sein Anwalt beantragte, den Oberstaatsanwalt durch einen anderen Ankläger zu ersetzen. Schon vor Verlesung der Anklage wurde das Verfahren deshalb vertagt. KLAUS HILLENBRAND