berliner szenen: Der Unterschied zum Stau
Menschen verbünden sich nur aus einem Grund, gegen einen gemeinsamen Feind. Im Alltag stößt man aber nicht ständig auf Erzfeinde, deswegen tut es auch ein Stau oder die Deutsche Bahn. Ich habe kein Auto und keinen Führerschein und kenne mich daher besser mit der Deutschen Bahn aus als mit Staus. Am Ende sind sich ein Stau und eine Zugverspätung gar nicht so unähnlich. Man sitzt unfreiwillig herum, möchte vorwärts, kommt aber nicht vom Fleck. Das eigene Mobilitätsschicksal liegt in den Händen einer undurchschaubaren höheren Macht.
Der ICE 1517 nach Leipzig hat Verspätung. Ich stehe am Gleis 2 des Berliner Hauptbahnhofs. Der einzige Lichtblick in diesen qualvollen Minuten und Stunden ist die Verbrüderung mit den Leidensgenossen, die unweigerlich nach einiger Zeit erfolgt. Diese Verbrüderung kann durch ein Kreuzen der Blicke während einer Durchsage („Der ICE 1517 nach Leipzig, ursprüngliche Abfahrtszeit 18.30 Uhr, aktuelle Verspätung: 55 Minuten“) mit synchronem Augenverdrehen beginnen und mit dem gemeinsamen Vertilgen von mehreren Bieren („Der ICE 1517 nach Leipzig, ursprüngliche Abfahrtszeit 18.30 Uhr, aktuelle Verspätung: anderthalb Stunden“) enden.
So habe ich Jens kennengelernt. Noch nie zuvor habe ich mich mit jemandem so gut und so lange aufregen können wie mit Jens. Natürlich nur über die Deutsche Bahn und natürlich total undifferenziert. Hier liegt wohl auch der Unterschied zu Staus: Bekanntschaften macht man da nur selten. Jens und ich kommen also zu dem Schluss, dass unsere Bekanntschaft irgendwie auch nur der Deutschen Bahn zu verdanken sei. Also haben wir uns entschlossen, zusammen diesen Text zu schreiben. Er dient aber auch dem Zeitvertreib. Denn der ICE 1517 nach Leipzig ist immer noch nicht da. Marlene Militz
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