: Aufs pure Sein gelenkte Aufmerksamkeit
Gegensätze, Gegensätze: Star-Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker und ihre Compagnie Rosas gastierten mit „Raga for the Rainy Season/A Love Supreme“ beim Laokoon-Festival auf Kampnagel
Intuition und messerscharfe Analyse, Chaos und Ruhe, Licht und Schatten – für Anne Teresa De Keersmaeker sind das nur scheinbare Widersprüche, aus deren Reibung sie aufregende und formvollendete Choreographien schafft. Vor allem ist es Musik, von der sich die Belgierin immer wieder neu inspirieren und leiten lässt, auf deren Basis sie mehr als 20 Jahre hindurch ihre unverkennbare choreographische Sprache zu einzigartiger Komplexität entwickelt hat.
Unbestritten gehört De Keersmaeker zu den bedeutendsten Künstlern im europäischen zeitgenössischen Tanz. Nach fünf Jahren war sie mit ihrer in Brüssel ansässigen Compagnie Rosas nun endlich einmal wieder in Hamburg zu Gast: vor ausverkauftem Haus bei Laokoon auf Kampnagel.
Die Gegensätze der traditionellen indischen Raga-Musik und des afroamerikanischen Jazz hat sie vereint in ihrem jüngsten Werk, das schlicht die Titel der beiden Musikstücke im Namen trägt: Raga for a Rainy Season führt an die Grenze von Raum und Zeit, die sich ins Unendliche zu dehnen scheint. Eine unfassbare Langsamkeit, unterbrochen von Augenblicken ekstatischer Leidenschaft, die wie ein Gewitter über einzelne Tänzer hereinbrechen. Dagegen verdichtet sich in der Choreographie zu John Coltranes „A Love Supreme“ die Energie in immer neuen Verflechtungen, schraubt sich in den wechselnden Stimmen der Tänzer in die Höhe.
Zwei Frauen und zwei Männer repräsentieren hier die Instrumente des Jazz-Quartetts: Cynthia Loemij, Moya Michael, Igor Shyshko und Co-Choreograph Salva Sanchis sind einzigartige Tänzerpersönlichkeiten, die De Keersmaekers streng-intelligenter Formensprache und Coltranes legendärer Komposition betörend neuen Geist einhauchen. Individualität zählt, während in Raga ... die Tänzer bei aller Einzigartigkeit eher Medium sind.
Weiß ist die Bühne, weiß sind auch die bauschigen Kostüme, die, auf alle erdenklichen Weisen drapiert, ein bewegtes Eigenleben entfalten. Ständige Begleiter sind zudem die schwarzen Schatten. Farbe in die Szenerie bringt eine Projektion der Tänzerin Elizaveta Penkóva in Alltagskleidung, die still an der Bühnenrückwand verharrt, als schaue sie aus einer anderen Welt den Bewegungen ihrer Seele zu, aufgespalten in sieben weitere Tänzerinnen und einen Tänzer. Mit fließenden Armgesten beginnt Penkóva den Tanz, gibt das Vokabular vor, öffnet den Raum für jene, die an den Seiten warten.
Die Melancholie des Wartens – auf den vermissten Geliebten, darauf, dass der Regen aufhört – ist Thema dieses Raga. Das ungewohnte Zeitmaß des meditativen Gesangs, dem die Choreographin nachspürt, lenkt die Aufmerksamkeit in fesselnder Weise auf das pure Sein. Marga Wolff