: „Erziehung kann Kinder gefährden“
Kinder müssen lernen, selbst über ihren Körper zu entscheiden, sagt Irene Böhm. Die Pädagogin arbeitet für Strohhalm e. V., eine Initiative zur Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder. Sexualkundeunterricht ist für Migranten wichtig
taz: Frau Böhm, Strohhalm e. V. leistet seit 15 Jahren Präventionsarbeit zu sexuellem Missbrauch an Kindern. Wie gehen Sie vor?
Irene Böhm: Schwerpunkt unserer Arbeit ist ein Präventionsprogramm für Grundschulen, das sich an Lehrkräfte, Eltern und Kinder der Klasse 3 bis 5 richtet. Unser Ansatz beruht auf der Annahme, dass eine präventive Erziehungshaltung dazu beiträgt, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen. Es gibt häufig aus Unkenntnis in der Erziehung Elemente, die Kinder gefährden können.
Wo und wie passiert das?
Das ist etwa in Familien der Fall, wo die Schamgrenzen nicht respektiert werden. Wenn Eltern ins Badezimmer gehen, selbst wenn das Kind allein baden will. Oder wenn Eltern ihr Kind gegen seinen Willen liebkosen wollen. Das sind Risikofaktoren, denn dabei wird die körperliche Integrität des Kindes nicht respektiert. Täter können daran leicht anknüpfen.
Wie können ErzieherInnen oder LehrerInnen sexuellem Missbrauch entgegenwirken?
Kinder sollten erfahren, dass sie ein Recht haben, auf unangenehme Gefühle zu hören. Sie müssen selbst entscheiden können, ob, von wem und wie sie angefasst werden möchten. Wenn ein Kind zum Beispiel allein auf die Toilette gehen möchte, dann sollte das auch in der Kita erlaubt sein. Pädagogen sollten gegenüber Kindern eine Schutzfunktion bieten. Sie müssen auch dann einschreiten, wenn Kinder untereinander Grenzen verletzen.
Sexuelle Gewalt verzeichnet eine besonders hohe Dunkelziffer. Kennen Sie Zahlen für Berlin?
Eigentlich gibt es keine aussagekräftigen Zahlen. Das Landeskriminalamt verzeichnet nur die angezeigten Sexualdelikte. Gerade bei Tätern im familiären Umfeld ist die Dunkelziffer enorm hoch. Je enger die Beziehung zwischen Täter und Opfer, desto seltener kommt es zur Anzeige. Das ist eben genau das Problem.
Sie sind seit zwei Jahren im Rollbergkiez in Neukölln aktiv, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Wie ist die Situation dort?
Es ist oft sehr schwer für türkische oder arabische Migrantenkinder, Hilfe zu bekommen, wenn sie in Missbrauchsbeziehungen verstrickt sind. Mädchen haben Angst, ihre Jungfräulichkeit, also ihre Ehre, verloren zu haben. Jungen denken, dass sie ihre Familie beschmutzt haben.
Wie versuchen Sie, die Menschen zu erreichen?
Wir müssen Frauen und Männer im Rollbergviertel über ihre Sprache erreichen. Deshalb arbeiten wir sehr eng mit dem dortigen Quartiersmanagement zusammen. Wir bieten regelmäßig Informationsabende für arabische und türkische Frauen an. In Rollenspielen vermitteln wir Jungen und Mädchen, wie sie sich vor sexuellem Missbrauch schützen können.
Das Problem beim sexuellen Missbrauch ist vor allem das Schweigen im familiären Umfeld. Wie gelingt es Ihnen, dieses zu brechen?
Wenn die Leute das Gefühl haben, dass sie auch wirklich gemeint sind, dann stehen die Chancen gut für uns. Denn prinzipiell wollen Eltern ihre Kinder immer schützen. Manchmal ist es so, als würden Dämme brechen. Dennoch müssen wir Müttern oft erst einmal erklären, wie wichtig der Sexualunterricht für Kinder ist.
INTERVIEW: TANIA GREINER