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Archiv-Artikel

Das Ende der Leidenszeit

Zuerst brach sich James Blake einen Halswirbel, dann starb sein Vater an Krebs, schließlich lähmte ihn eine Gürtelrose. Nun hat der 25-jährige Amerikaner all das überstanden, den Spanier Rafael Nadal besiegt und steht im Achtelfinale der US Open

AUS NEW YORK DORIS HENKEL

James Blake saß selig lächelnd auf seinem Stuhl, streckte entspannt die Beine aus, und einen Moment lang hätte man glauben können, er wolle mitsamt dem Stuhl aus dem Stadion schweben. Auf der Tribüne lagen sich Mutter und Freundin gerührt in den Armen, und die meisten der 20.000 Zuschauer im Stadion konnten das gut verstehen, nicht nur wegen des Sieges ihres Landsmannes gegen die Nummer zwei der Welt, Rafael Nadal. Wussten sie doch, dass zu diesem Sieg und zu diesem Mann eine ebenso traurige wie schöne Geschichte gehört.

Im Mai vergangenen Jahres war Blake während des Trainings beim Turnier in Rom bei einem Sturz mit dem Kopf gegen den Netzpfosten geprallt, hatte sich den Bruch eines Halswirbels zugezogen und war, wie ihm die Ärzte später eröffneten, nur mit viel Glück einer Querschnittslähmung entgangen. Sechs Wochen später starb sein Vater Thomas an Magenkrebs, aber die eigene Verletzung hatte ihm Zeit geschenkt, in den letzten Wochen an der Seite des Vaters zu sein. Sechs Wochen, die er nicht missen möchte, und deshalb sagt er heute noch und immer wieder, die Kollision mit dem Netzpfosten sei rückblickend das Beste gewesen, was ihm im ganzen Jahr 2004 passiert sei. Eines Jahres im Übrigen, wie er es dem ärgsten Feind nicht wünsche.

Zwei Wochen nach der Beerdigung des Vaters wachte er von einem Tag auf den anderen mit massiven Schmerzen in Ohr und Gesicht auf. Die Ärzte stellten eine durch nervlichen Stress ausgelöste Gürtelrose fest; Blake litt wochenlang unter Lähmungen der linken Gesichtshälfte und Schwindelanfällen und konnte bisweilen nicht mal mehr das Augenlid bewegen. Die US Open 2004 verfolgte er an Körper und Seele verletzt am Fernsehschirm, und oft genug fragte er sich, ob er jemals wieder mitspielen würde. „Da war ich gerade mal 24 und wollte nicht nur Erinnerungen haben; ich wollte nicht über das Ende meiner Karriere nachdenken“, hat er dieser Tage gesagt. „Ich habe mir gewünscht, dass ich zurückkehren und den Leuten zeigen kann, dass ich immer noch ziemlich gut bin in diesem Spiel“.

Als es ihm im November besser ging und er sich wieder ans Training wagte, hatte er das Gefühl, von vorn anzufangen zu müssen. Selbst Kleinigkeiten machten ungeahnte Mühe. Dennoch stürzte er sich mit Trotz und Hingabe in die Arbeit, kehrte beim ersten Turnier 2005 tatsächlich zurück, fühlte sich aber zunächst irgendwie wie ein Fremder zwischen den Linien. Was er denn erwarte, fragte ihn sein langjähriger Coach Brian Barker jeden Tag, er solle doch bitte nicht vergessen, was er hinter sich habe.

Bis zum Sommer schwankte Blakes Form. Als die Meldeliste für die US Open Mitte Juli geschlossen wurde, reichte seine Position in der Weltrangliste nicht, um sich direkt zu qualifizieren, und so half der amerikanische Tennisverbend Usta mit einer Wildcard aus. Doch dann erreichte er Anfang August beim ATP-Turnier in Washington das erste Finale nach zwei Jahren, und beim letzten Turnier vor Beginn der US Open in New Haven gewann er sogar den Titel mit einem Sieg gegen den Spanier Feliciano Lopez. Es war der zweite Titel seiner Karriere, vor allem aber der erste im zweiten Teil. Die Ranglistenposition nach diesem Erfolg – Nummer 49 – hätte zweimal genügt, um in New York aus eigener Kraft dabeisein zu können.

Die meisten Leute, die Samstag im Arthur-Ashe-Stadion waren, als James Blake in vier feurigen Sätzen 6:4, 4:6, 6:3, 6:1 gegen Rafael Nadal gewann, kannten diese Geschichte. Selbst sie feierten mehr als nur den Sieg eines standhaften Landsmannes gegen den spanischen Himmelsstürmer, der in diesem Jahr schon neun Titel gewonnen hatte. Aber sie hatten dennoch wohl nicht mehr als eine Ahnung, wie sehr ihr Mann da unten auf dem Platz das alles genoss.

Ein Jahr zuvor zur gleichen Zeit hatte er nur mit Mühe dreimal mit dem linken Auge blinzeln können, jetzt war er in manchen Ballwechseln schneller auf den Beinen als der so überaus flinke Nadal. Blake war es, dem die spektakulärsten Schläge gelangen, und seine Entschlossenheit entschied dieses Spiel. Kein Wunder also, dass er danach auf dem Stuhl in stillem Glück fast zu schweben begann.