berliner szenen: Raubt dem Kind den Sauerstoff
Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn“, schrieb Alfred Döblin. „Man geht auf Brettern.“ Wir laufen wie auf Eiern neunzig Jahre später. Wir haben den Kinderwagen dabei und nicht das Tragetuch. Wir dachten, das wäre sicherer. Nun sitzen wir in der U2 und starren wie gebannt auf den winzig kleinen Brustkorb unseres Babys, das so unendlich weit weg von uns in diesem riesigen Kinderwagen liegt.
Paul steht neben dem Wagen und steckt alle zehn Sekunden seinen Kopf hinein, um am Mund des Babys zu horchen. „Atmet es noch? Ich kann nichts hören. Die Bahn ist so laut.“
Plötzlich wird die U2 langsamer und hält an einer Station. Paul spannt seine Schultern auf wie ein Schwan seine Flügel und stellt sich breitbeinig vor den Wagen, während er die einsteigenden Fahrgäste mit seinem grimmigsten Montagmorgengesicht anguckt, dass sie ängstlich zusammenzucken und sich einen Platz am anderen Ende des Wagens suchen.
Die Bahn fährt weiter. Tageslicht. Wir befinden uns auf dem Hochbahnviadukt der Schönhauser Allee.
Wenn das einstürzt!, überlege ich schaudernd, sage aber nichts. Paul fummelt eine Mullwindel über das Verdeck, damit das Baby nicht geblendet wird, was jedoch zur Folge hat, dass er überhaupt nicht mehr aufrecht steht, sondern nur noch hinter die Mullwindel lugt.
„Jetzt komm doch mal da vor!“, sage ich. „Du raubst dem Kind den ganzen Sauerstoff!“ Paul richtet sich erschrocken auf. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine ältere Dame auf der gegenüberliegenden Bankseite lächeln. Ein Schnösel mit Stöpseln in den Ohren verdreht die Augen. Ich mustere ihn abschätzend. Wehe, der stößt beim Aussteigen gegen den Kinderwagen! Dann ist er tot!
Die Bahn fährt wieder unterirdisch. Gleich sind wir am Alex. Lea Streisand
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