„Die sollen den Arsch hochkriegen“

Immer beißender wird die Kritik am Versagen der Bürokratie und der Politiker, vor allem an Präsident Bush. Der bereut und schiebt die Schuld anderen zu

„Während die Regierung sich Ausreden ausdenkt, sterben Menschen“ „Eine Schande für Amerika. Wir wurden auf die Probe gestellt und haben versagt“

aus Jackson/Mississippi SEBASTIAN MOLL

Um die wohl schwerste politische Krise seiner Amtszeit einzudämmen, wird US-Präsident George Bush der Katastrophenregion in den Südstaaten heute einen zweiten Besuch abstatten. Seine Außenministerin Condoleezza Rice versuchte schon gestern, gute Miene zum deprimierenden Spiel zu machen, und setzte dabei auf den Heimvorteil: Sie stammt aus Alabama.

Als Bush erstmals am Freitag nach tagelangem unverständlichem Zögern der Katastrophe ins Auge schaute, wurde er auf dem Rollfeld des Flughafens von New Orleans von Bürgermeister Ray Nagin frostig begrüßt. Bush bemühte sich, ihm vor laufenden Kameras betont herzlich die Hand zu schüttelten. In Nagin schwelte jedoch der über die Woche angestaute Zorn auf die Bundesregierung, dem er am selben Tag in einem Radiointerview freien Lauf gelassen hatte. „Ich höre jeden Tag, es passiert dies, es passiert jenes. Ich höre, dass wir 40.000 Nationalgardisten nach New Orleans bekommen sollen. Hier sind keine Nationalgardisten angekommen. Die in Washington sollen endlich ihren Arsch hochkriegen und etwas tun.“

Ähnlich frustriert wie der Bürgermeister war die Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, die schon am Mittwoch beim Präsidenten anrief und ihn anflehte, endlich etwas zu tun. Derart träge war Washingtons Reaktion auf die Krise, dass Paul Krugman, Kolumnist der New York Times, schrieb: „Amerikaner waren einmal dafür bekannt, dass es nichts gibt, was sie nicht anpacken. Jetzt haben wir eine Regierung, die nichts anpackt. Und während sie sich Ausreden ausdenkt, sterben Menschen.“

Dabei bemühte sich George Bush diesmal zunächst gar nicht allzu sehr, sich herauszuwinden: „Das Ergebnis der Krisenbewältigung ist bislang nicht akzeptabel“, gestand er, als er am Freitag mit dem sichtlich kochenden Bürgermeister und der Gouverneurin New Orleans inspizierte. Und in der Tat konnte er nicht sehr stolz auf das sein, was er da sah. Es war ganz offensichtlich noch nicht gelungen, die etwa 100.000 zurückgebliebenen Einwohner der Stadt ausreichend mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen. Es war nicht geglückt, die Kranken und Verletzten zu versorgen oder die Zurückgebliebenen sowie die Krisenhelfer vor marodierenden Banden zu schützen.

Am Wochenende strömten dann endlich rund 6.500 Soldaten nach New Orleans, um die Stadt zu befrieden und um nach Überlebenden zu suchen. 20.000 Nationalgardisten trafen in Louisiana ein. Insgesamt 40.000 sollen es bald in der gesamten Krisenregion sein. Amphibienfahrzeuge brachten Lebensmittel in die überfluteten Straßen. Krankenhäuser und Altersheime konnten endlich evakuiert werden, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen sterben. Krankenhaus- und Versorgungsschiffe der Marine wurden auf den Weg gebracht und sollen im Laufe der Woche in New Orleans eintreffen. Die ersten von 40 geplanten Aufnahmelagern mit medizinischer Betreuung eröffneten in Baton Rouge. Und vollständig evakuiert wurden am Sonntag endlich auch das Football-Stadion und das Kongresszentrum der Stadt, wo Zehntausende tagelang verzweifelt ausgeharrt und auf Hilfe gewartet hatten.

Bevor George Bush am Freitag wieder von New Orleans zurück nach Washington flog, betonte er mehrfach, dass er diese Katastrophe als nationale Aufgabe versteht. Der Präsident hatte endlich begriffen, welche Rolle in dieser Lage von ihm gefordert ist. Die Frage, warum es so lange gedauert hat, bis Washington mit der angemessenen Dringlichkeit reagierte, wird Bush jedoch noch einige Zeit verfolgen. Mehrere Mitglieder des Senats forderten während der Debatte um die Bewilligung der 10,5 Milliarden Dollar Nothilfe eine Untersuchung der verzögerten Reaktion im Weißen Haus. „Das war eine Schande für Amerika“, sagte die Kongressabgeordnete Diane Watson. „Wir sind auf die Probe gestellt worden und haben versagt.“

Laut Times-Kolumnist Krugman ist die laxe Einstellung, mit der Bush die Katastrophenhilfe anging, das Symptom einer tief sitzenden Gleichgültigkeit gegen „fundamentale Regierungsaufgaben“ in dieser Administration. Oberflächlich war diese Einstellung schon an den Bildern von George Bush abzulesen, auf denen er noch am Dienstag in Kalifornien an einem Lagerfeuer Gitarre spielte. Seine Außenministerin Condoleezza Rice vergnügte sich unterdessen in New York bei den US Open im Tennis und bei Broadway Musicals.

Handfester ist diese Gleichgültigkeit etwa daran festzumachen, wie Bush über die Jahre die Krisenbehörde Fema ausgehöhlt hat. Seit Fema 2003 in die neue Homeland-Security-Behörde integriert wurde, hat sie entscheidend an eigenständiger Handlungsfähigkeit verloren. Vom Kongress bewilligte Gelder gehen nicht mehr zweckgebunden an Fema selbst, sondern an die Dachorganisation zur Heimatsicherung. Das Konstrukt erlaubt es, für Fema bewilligte Gelder in die Terrorismusbekämpfung umzuleiten – und von dieser Möglichkeit wurde in der vergangenen zwei Jahren ausgiebig Gebrauch gemacht. Langfristige Maßnahmen, die Bereitschaft für einen nationalen Ernstfall wie das jetzige Desaster herstellen sollen, sind kaum mehr durchführbar. Der frühere Fema-Direktor James Lee Witt war deshalb schon vor einem Jahr alarmiert und sagte vor dem Kongress: „Ich bin tief besorgt, dass die Fähigkeit unseres Landes, auf Katastrophen zu reagieren, völlig ausgehöhlt ist. Ich höre täglich von Krisenmanagern auf jeder Ebene, dass die Fema, die sie einst kannten und für die sie einst arbeiteten, nicht mehr existiert.“

Die Inkompetenz und Handlungsunfähigkeit der Krisenbehörde nahm in den vergangenen Tagen in New Orleans bisweilen bizarre Formen an. So war Fema-Einsatzleiter Michael Brown völlig überrascht, als CNN-Moderatorin Paula Zahn ihn vor laufenden Kameras damit konfrontierte, dass Menschen im Kongresszentrum der Stadt ohne Wasser und Lebensmittel eingeschlossen sind. Fema ist offensichtlich infolge von Bushs besessener Konzentration auf den Irak zu einer impotenten Bürokratie degeneriert.

Nicht besser erging es unter George Bush den Anstrengungen des zivilen Ingenieurskorps, New Orleans vor der Überflutung zu schützen, die der Stadt seit ihrer Gründung droht. Seit 1965 gibt es ein Programm, die Stadt zu befestigen. Beinahe alle Präsidenten haben seither an diesem Programm herumgespart und es an der Vollendung gehindert. Keiner hat jedoch so sehr geknausert wie Bush.

Während Bill Clinton noch 100 Millionen jährlich für New Orleans ausgab, sind die Mittel unter Bush auf unter 75 Millionen geschmolzen. Die Rechnung ging nicht auf – die 10 Milliarden, die der Kongress für New Orleans jetzt bewilligt hat, so schätzt man, sind kaum mehr als eine Anzahlung. Wie viele Dollars danach noch den Mississippi hinunterfließen werden, kann heute noch niemand ermessen.

Während sich Bush angesichts der massiven und zornigen Schelte an seinem Führungsstil öffentlich zumeist noch in der Rolle des Reuigen übt, drehte er in seiner wöchentlichen Radioansprache bereits zu seiner beliebten Methode bei, die er schon bei „9/11“ und der vergeblichen Suche nach ABC-Waffen – Schuld seien der CIA und noch mal der CIA – erfolgreich anwendete: den schwarzen Peter anderen zuschieben. Diesmal den Behörden auf der Regional- und Bundesstaatenebene. Diese seien vor allem verantwortlich. Das große Fingerzeigen hat also begonnen. Dabei muss zumindest die föderale Entscheidungsstruktur auch im Katastrophenfall beachtet werden. In den USA liegt die Verantwortung zuerst bei Bürgermeister und Gouverneur und deren Behörden. Nur wenn diese Bundeshilfen anfordern, wird Washington aktiv. Nach „Katrina“ ersuchte die demokratische Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, auch erst am Mittwoch um Hilfe von außen und erklärte erst am Samstag den Katastrophenfall. Auch sie muss sich, genauso wie ihre Kollegen aus Mississippi und Alabama, sehr unbequeme Fragen gefallen lassen. Auffällig ruhig waren sie beim ersten Bush-Besuch am Freitag, ihre beißende Kritik am Weißen Haus aus den Vortagen war verstummt. Auf der anderen Seite ist natürlich bei Desastern dieser Dimension die Führungsstärke des Präsidenten gefordert. Zumal er über die Autorität zum „Durchregieren“ verfügt und zum Beispiel Einheiten der Nationalgarde eigenmächtig in Krisengebiete entsenden kann. Wer warum am Ende versagt hat, soll nun ein Untersuchungsausschuss im US-Senat klären.

MITARBEIT: MICHAEL STRECK