Auf dem Weg nach Vlotho

Cannes Cannes 10. Zum Finale „Dogman“ von Matteo Garrone und „In My Room“ von Ulrich Köhler

Unser Filmredakteur Tim Caspar Boehme berichtet täglich von den Inter­nationalen Filmfest­spielen in Cannes.

Hunde sieht man in Cannes während des Festivals nur gelegentlich auf der Straße. Wenn man nicht aufpasst, wohin man die Füße setzt, kann man allerdings schon mal in eine ihrer Hinterlassenschaften treten. Trotz vorbildlicher Doggybag-Spender im öffentlichen Raum.

Einen Hund als Protagonisten hat Matteo Garrone, Regisseur unter anderem des Camorra-Gangsterfilms „Gomorrha“, für seinen Wettbewerbsbeitrag gewählt. „Dogman“ heißt der Film, und genauso heißt auch der kleine Laden, den Marcello (Marcello Fonte) betreibt. Er wäscht, frisiert, manikürt und massiert dort Hunde von klein bis sehr groß. Vor allem er selbst ist aber ein Underdog, wie man ihn sich geprügelter kaum denken kann. Der schmächtige Mann wohnt in einer Satellitenstadt vor Rom, einem bröckelig-monumentalen Beton­ungetüm am Meer, wo die Farben von der Sonne zu sandigem Grau ausgebleicht sind. Die Gemeinschaft hält weniger durch Solidarität zusammen als durch eine klare Hackordnung, an deren Ende Marcello steht. Simone (Edoar­do Pesce), sein so muskelbepackter wie unberechenbarer Freund, weiß das gut für seine eigenen Zwecke auszunutzen, um auf Kredit an Drogen zu kommen oder um Marcello als unterbezahlten Aufpasser bei Brüchen zu verpflichten. Irgendwann kippt diese Balance. Das ist in der Anlage der Geschichte einigermaßen zu erwarten. Seine eigentlichen Reize bekommt der Film hingegen durch das Zusammenspiel von Marcello Fonte und den Hundekunden im Laden, von denen sich selbst die furchterregendsten schamponieren und föhnen lassen. Darunter dürfte sich bestimmt ein Kandidat für den Palm Dog Award finden.

Der Kameramann

Interaktion von Tier und Mensch gibt es sogar noch mehr in Ulrich Köhlers „In My Room“ in der Reihe „Un Certain Regard“. Zunächst gibt es bei ihm jedoch Bilder von Bundespolitikern, und zwar echten. Armin (Hans Löw) ist Kameramann in Berlin und filmt sie für Nachrichtenbeiträge. So richtig gut laufen die Geschäfte bei ihm gerade nicht. In der Liebe ist es ebenfalls mau. Dann liegt die Oma im Sterben, und Armin macht sich auf den Weg zur Familie in Vlotho.

So weit ist der Film das Porträt eines stagnierenden Mannes in einer Midlife-Crisis, von Hans Löw mit gefasster Zerbrechlichkeit gespielt. Dann geht es übergangslos komplett anders weiter: Armin bekommt die Chance zu einem Neuanfang. Und das in ganz grundsätzlicher Hinsicht. Denn als er am Morgen nach dem Tod der Oma aufwacht, ist er allein. Kein Mensch weit und breit. Ulrich Köhler macht aus dieser Idee eine Überlebensgeschichte mit sehr eigenem Tonfall. So kann man Armin ausgiebig beobachten, wie er nackt mit Mineralwasser duscht oder in einem verlassenen italienischen Polizei-Lamborghini ziellos über menschenleere Straßen rast. Besonders schön sind die vielen Szenen, in denen Armin sich um seine Tiere kümmert – er will autark leben –, Ziegen melkt, zu Pferde ausreitet, um sich im nächsten Supermarkt zu versorgen, oder einem Wolf nach setzt, der ein Zicklein gerissen hat.

Seine kaum begrenzten Möglichkeiten nutzt dieser mutmaßlich letzte Mensch dabei erstaunlich konservativ, im Sinne von bewahrend. Wenn in der Erzählung zugleich ein drohendes Zukunftsszenario enthalten sein sollte, hat Ulrich Köhler das jedenfalls in eine stellenweise durchaus komische existenzielle Poesie überführt. Was gut in diesen Jahrgang mit seiner gewissen Schwäche fürs Magische passt.

Tim Caspar Boehme