Erschreckend unterhaltsam

„Die Unversehrten“: Tanja Paar erzählt von der Katastrophe, wenn Frauen und Männer sich einbilden, ihr Leben planen zu können

Aus Wünschen wird Wahn, aus dem Willen zum Plan die große Unordnung: Tanja Paar beschreibt in ihrem Debüt ein Beziehungsdesaster Foto: Pamela Rußmann

Von Carsten Otte

Schon im ersten Halbsatz steckt das ganze Drama. „Eine Beziehung auf Armlänge.“ Etwas Distanz. Etwas Freiraum für sie und ihn. Wie man das in jungen Jahren eben macht, wenn es noch keine Verpflichtungen gibt, wenn etwa noch kein Kind den Alltag prägt. Tanja Paar, langjährige Redakteurin der österreichischen Tageszeitung Der Standard, setzt in ihrem Debütroman „Die Unversehrten“ auf solche knappen und kühlen Satzfragmente, die umgehend ergänzt werden: „Eine Beziehung auf Armlänge. Sie entsprach ihrem Wesen.“

Es wäre nicht schwer gewesen, beide Teile zu einem Satz zu verbinden, der etwas eleganter daherkäme, aber das Zersplitterte deutet auf der sprachlichen Ebene schon an, womit wir es in diesem Text zu tun bekommen. Es gibt einen Willen zum Plan, und der führt zu Trennungen und Abspaltungen, letzten Endes auch in den Abgrund. Dabei scheint es für Violenta und Martin nicht schlecht zu laufen: Kindheit und Teenagerzeit sind ohne größeren Verwundungen überstanden, die Zwänge von Familie und Beruf greifen noch nicht. Martin arbeitet in Berlin an seiner Dissertation im Bereich der Augenheilkunde. Violenta, die ihren schrecklichen Namen wohl auch nicht mag und sich wie das modische Mineralwasser Vio nennt, ist beruflich in Bologna unterwegs und plant ihre Karriere, vielleicht in einer internationalen Organisation. Beide wollen in naher Zukunft ein gemeinsames Leben führen.

So weit die Planungen, so weit eine typische Fernbeziehung in der Zeit nach dem Studium, also in der beruflichen Orientierungsphase. Martin nutzt seine Freiräume etwas intensiver, vor allem was die Erfüllung seines Sexuallebens angeht. Seiner Freundin sagt er, Sex sei „für ihn wie Zähneputzen“, danach fühle er sich besser, die wechselnden Bettgeschichten aber würden sein Verhältnis zu Vio nicht tangieren. Was natürlich ein Irrtum ist. Martin lernt Klara kennen; der unverbindliche Affärenstatus kann dieses Mal nicht gehalten werden. Denn Klara ist schwanger und wünscht sich ein übersichtliches Familienmodell. Der Vater ihres Kindes möge sich doch bitte von der Konkurrentin trennen.

Selbst wenn Klara nicht Martins große Liebe ist, scheint sein Verantwortungsbewusstsein dem Kind gegenüber doch größer zu sein als das, was eine „Beziehung auf Armlänge“ mit Vio ihm bieten könnte. Die Tochter wird gemeinsam von den Eltern in Berlin aufgezogen, aber der Alltag ist zermürbend, das Leben hat nichts mit den ursprünglichen Idealen und Wünschen zu tun. Man kennt das, die ganz normale Trostlosigkeit der von tradierten Mustern geprägten Lebensläufe. Doch dann taucht Vio nach zehn Jahren wieder auf, und auch sie hat einen neuen Plan, nämlich den Kerl, den sie immer noch liebt, mit allen Mitteln zurückzugewinnen.

Die Ereignisse dieser Dreiecksgeschichte werden nicht chronologisch erzählt, sondern aus wechselnder personaler Erzählperspektive. Weil die kurzen und dichten Kapitel den Roman zu einem Puzzle machen, der sich erst zum Schluss zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügt, schafft es die Debütantin, ein hohes Maß an Spannung zu erzeugen. Wir ahnen zwar, dass der Grundkonflikt eskalieren wird, weil alle Protagonisten nicht von ihren Plänen abrücken, weil sich leider beide Frauen in ihrer Rücksichtslosigkeit kaum etwas nehmen, doch wie die Geschichte ausgeht, übersteigt die auf Harmonie gepolte Vorstellungskraft.

Um nicht zu viel zu verraten: Kaum hat die eine ihre Rückeroberungsschlacht gewonnen, ergeht sich die andere in einem Rachefeldzug. Der Hass ist grenzenlos und wird auch auf die Kinder übertragen. Die durchaus nicht beabsichtigten Folgen sind ein totes Kind und eine schuldig-unschuldige Mutter im Gefängnis, aus den Unversehrten werden Traumatisierte und Beschädigte. Die Tragödie von nahezu antikem Ausmaß ist nicht aufzuhalten, weil sich aus der eingebildeten Leichtigkeit des Liebeslebens der Starrsinn der Besitzverhältnisse entwickelt hat.

Tanja Paar: „Die Unversehrten“. Haymon Verlag, Innsbruck 2018, 160 Seiten, 17,90 Euro

Aus Wünschen wird Wahn, aus dem Willen zum Plan die große Unordnung. Dabei stellt Tanja Paar ihren Geschlechtsgenossinnen ein besonders verheerendes Zeugnis aus. Der Mann ist wankelmütig und leicht zu manipulieren, die weiblichen Figuren aber gerieren sich in ihrem Roman als intrigante Muttertiere.

Tanja Paar hat mit ihren „Unversehrten“ ein Debüt vorgelegt, das sich deutlich abhebt von den großen Strömungen österreichischer Prosaproduktion, die noch immer geprägt ist von bekannten Tonlagen und Themen: zum einen von der Suadaliteratur im Stile Thomas Bernhards, wie sie heute etwa von feministischen Autorinnen wie Gertraud Klemm gepflegt wird. Von raunender Naturmetaphorik und der Arbeit am Bergmythos sowie von einer gewissen Weltkriegsversessenheit, wie man sie etwa im jüngsten Werk von Arno Geiger beobachten kann. Von all dem ist bei Paar nichts zu finden, ihr Text ist sprachlich und inhaltlich im Hier und Jetzt angesiedelt.

Das Düstere wird schnell und erschreckend „unterhaltsam“ erzählt. Das geht vor allem im letzten Drittel des Romans etwas auf Kosten der dramaturgischen und psychischen Plausibilität, doch die Neugier auf den Ausgang der Geschichte ist so groß, dass man über diese Mängel hinwegliest.