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Archiv-Artikel

Die Antithese zu Bertolucci

Lidokino (6): Nach Takashi Miikes Film „The Great Yokai War“ könnte man auch aus Venedig abreisen. Tut man dann aber doch nicht – und sieht mit Philippe Garrels „Les amants réguliers“ den bisher besten Film des Wettbewerbs. Er fängt den Straßenkampf des Jahres 68 in langen Tableaus ein

VON CRISTINA NORD

Den verrücktesten Film der Mostra zu präsentieren, obliegt dem japanischen Regisseur Takashi Miike. Im letzten Jahr stellte er sein Samurai-Spektakel „Izo“ vor; in diesem Jahr läuft außer Konkurrenz „The Great Yokai War“. Kaum ist der Trailer der Produktionsfirma auf der Leinwand erschienen, setzt im Publikum schon Jubel ein. Miike kann sich der Treue seiner Fans sicher sein. Befreundete Kollegen haben seit dem Beginn des Festivals die Stunden bis zur Pressevorführung gezählt: Sonntagabend, 22.15 Uhr, Sala Palagalileo. „Danach können wir eigentlich auch abreisen.“

Yokai sind Fabelwesen. Es gibt sie in mannigfaltiger Gestalt, als menschenähnliche Flussprinzessin ebenso wie als lebendes Plüschtier, das herzzerreißend fiept, sobald es in Bedrängnis kommt. Alles hätte seine Ordnung, wäre da nicht Agi (Chiaki Kuriyama). Einst gehörte sie selbst zu den Yokai, nun ist sie bösartig und setzt alle ihre Kräfte daran, die gutartigen Yokai in Killermaschinen zu verwandeln. Ausgerechnet Tadashi (Ryunosuke Kamiki), dem Kind, das in seiner Schule als „crybaby“ verspottet wird, fällt die Aufgabe zu, Agi zu besiegen – und siehe da, der Außenseiter, der Ängstliche macht sich daran, Yokai wie Menschen zu retten. Jedes Mal, wenn er sein magisches Schwert zückt, wimmert er vor Angst – aber er schlägt dennoch zu, dass es funkt, knallt und spritzt.

Miike bezeichnet den Film, der seine production values freudvoll ausstellt, als Spaß für die ganze Familie: „Ich habe Beine mit Kreissägen abgetrennt und Yakuzas der Länge nach zerschnitten, und es gibt niemanden, dem ich die Schuld dafür geben könnte außer mir. Wie dem auch sei, dies ist ein echter Familienfilm.“

Im Wettbewerb besichtigt derweil Philippe Garrel mit „Les amants réguliers“ das Jahr 1968 neu. Dazu ist zu sagen, dass Bernardo Bertolucci mit „The Dreamers“ auf der Mostra 2003 etwas Ähnliches versuchte. Wie „Les Amants réguliers“ spielte „The Dreamers“ Ende der 60er-Jahre in Paris, er schaute jungen, schönen Menschen dabei zu, wie sie gegen die Schließung der Cinemathèque Française protestierten. Filmgeschichtliche Reminiszenzen und Verbeugungen vor den Schlüsselfilmen der Nouvelle Vague gab es zuhauf. Je länger „The Dreamers“ dauerte, umso stärker wich er von Protest und Politik ab, um sich auf das amouröse Dreieck seiner Protagonisten zu konzentrieren, mit inzestuösem Unterton und tiefenpsychologischem Surplus. Auf wessen Bild onanierte gleich noch Michael Pitt in der Rolle des jungen Amerikaners? Auf das Marlene Dietrichs oder das Greta Garbos?

Die Reaktionen auf den Film waren ekstatisch. Mit „The Dreamers“ verstand es Bertolucci, die heimlichen Nostalgien einstiger Revolutionäre genauso zu bedienen wie die Eitelkeit der Cinephilen, die die Filmzitate zu entschlüsseln wussten. Eine feine Ironie ist daran aus heutiger Sicht, dass Louis Garrel, der Sohn Philippe Garrels, damals eine der drei Hauptfiguren verkörperte. Und nun ist er François, die Hauptfigur in „Les Amants réguliers“. Der Unterschied ist freilich, dass „Les Amants réguliers“ die Antithese zu Bertoluccis Altherren-Opulenz ist – und der bislang schönste Film des Wettbewerbs, eine dreistündige Meditation in Schwarzweiß, die den Straßenkampf in lang stehenden Tableaus einfängt: eine Totale, links ein umgestürztes Auto, rechts die brennenden Barrikaden in der Nacht, dazwischen junge Leute, von hinten gefilmt, losgelöste Satzfetzen, Polizeisirenen in der Ferne, nach Minuten ein langsamer Schwenk.

Garell tritt den Figuren nicht zu nahe, sein Film ist diskret und damit antipsychologisch. Man erfährt nicht viel über die Protagonisten und ihre Motive, stattdessen sieht man sie: wie sie einem großen Haus leben, Kunst machen, Opium rauchen. François verliebt sich in eine junge Bildhauerin (Clotilde Hesme), sie sich in ihn. Hin und wieder flicht Garell eine für die Nouvelle Vague charakteristische Spielerei ein. Welches Jahr ist, zeigen Hausnummern: 68, später 69. Der Straßenkampf löst sich unvermutet in eine Sequenz auf, in der die Darsteller Kostüme aus dem Jahre 1789 tragen. Je länger „Les Amants réguliers“ voranschreitet, umso mehr weicht das Politische einer umfassenden Müdigkeit. Ein Aktivist verabschiedet sich in den Untergrund, indem er einen Brief hinterlässt: „Ihr seid zu bourgeois.“ Unschlagbar cool bleibt, wie Clotilde Hesme in Jeans, Stiefeln und weißem Männerhemd durch die Szenen geht.