Das Drama der Ottonormaladoleszenz

TONLAGEN Gerhard Henschel erzählt vom Heranwachsen in der Bundesrepublik. Verblüffend, wie er es in seinem „Jugendroman“ hinkriegt, die Ödnis in Unterhaltsamkeit zu verwandeln

So wie die Bundesrepublik bei ihm klingt, so klang sie im Guten wie im Bösen wirklich

VON EKKEHARD KNÖRER

Niemand träumt vom SV Meppen. Nicht mal Martin Schlosser, der ein Fußballfan ist, zu seinem Leidwesen jetzt in Meppen lebt und sogar in der Jugend des Vereins spielt, dessen gloriose Zweitligajahre dann erst in den Neunzigern kamen. Nein, jetzt sind die Siebzigerjahre; und wenn Martin Schlosser träumt, dann, wie jeder vernunftbegabte Nachwuchsfußballer der Zeit, davon, einmal in der Gladbacher Fohlenelf zu spielen. Woche für Woche protokolliert Martin Schlosser, als Ich-Erzähler von Gerhard Henschels „Jugendroman“, die Ergebnisse der Borussia.

Viele Träume hat Martin Schlosser ohnehin nicht. Er ist vielmehr ein zu Schönspielerei aller Art wenig geneigter Realist. Sein Trainer erkennt gleich, dass er nicht als Stürmer, sondern als zäher Verteidiger taugt. Offensiv ist Martin auch in der Schule und sonst nicht, eher einer, der lieber beobachtet als mitmacht. Leidenschaften aller Art sind ihm fremd. Noch wenn er für die Mitschülerin Michaela Vogt schwärmt, hat das was von Pflichtschuldigkeit: Jeder ihrer Blicke, der ihn im Klassenzimmer möglicherweise streift, wird notiert wie ein Borussia-Ergebnis. Es folgt daraus nichts. Martin Schlosser köchelt seine „Liebe“ auf Sparflamme und scheint’s ganz zufrieden. Der Rest sind Hausaufgaben und Unkrautjäten im Garten der Eltern.

Halbjahrhundertaufriss

Mit dem „Jugendroman“ setzt Gerhard Henschel seine weitestgehend autobiografische Chronik der Familie Schlosser fort. Am Anfang stand, als Halbjahrhundertaufriss, die aufwühlende Briefkomposition „Die Liebenden“, in der er die Lebens-, Liebes- und Ehegeschichte von Martin Schlossers Eltern erzählt. Ein bitterer Desillusionierungsroman, der mit den authentischen Stimmen der Beteiligten davon berichtet, wie Blütenträume, die von Anfang an nicht gerade ins Maßlose zielten, dann nicht reifen. Ein Haus, vier Kinder, beruflicher Erfolg. Von außen sieht das ganz ordentlich aus. Von innen ist es eine Tragödie der Zermürbung.

Mit dem „Kindheitsroman“ stellte Henschel um auf die Einzel-Ich-Perspektive. Was man vorgesetzt bekommt, ist Martin Schlosser als Kind, ist die Welt, wie er sie sieht. Erklärtermaßen geschult an Walter Kempowski, zerlegt Henschel seine Geschichte in einzelne Szenen und hält darin Alltagswirklichkeit in subjektiven Aufnahmen fest. Ein Familienalbum aus Kindersicht, in dem aber im Hintergrund jede Menge Zeitmaterial mit ins Bild kommt. Sprachliches nicht zuletzt. Henschels Romane sind Schatzhäuser deutscher Redensarten, Phrasen und Werbesprüche. Aus der lakonischen Reihung des Alltags- und Sprachmaterials ergeben sich, im „Kindheitsroman“ vor allem, die schönsten Pointen.

Schon als Polemiker und Satiriker, der die Dummbeutel der Republik das Fürchten lehrte, war Gerhard Henschel ein Mann des entlarvenden Zitats. Man muss den gefährlichen Unsinn nur deutlich genug herauspräparieren, dann wird er – so die unerklärte Methode – sichtbar als das, was er ist. In seinen Romanen entpuppte der Autor sich dann als Erzrealist, der die Welt als unmarkierte Zitatkomposition zur Wiederaufführung bringt. Nicht sprachliche Originalität strebt er an, sondern das gerade Gegenteil. Henschel hat einen überaus feinen Sinn für Tonlagen, Töne und Sprachklischees. So wie die Sechziger- und Siebzigerjahre der Bundesrepublik bei ihm klingen, so klangen sie im Guten und sehr viel mehr noch im Bösen tatsächlich.

Zwar zielt Henschel in den Romanen nicht direkt auf Entlarvung. Die scharfe Polemik, die Analyse erhellender Sprachvergehen hebt er sich für seine daneben in rascher Folge entstehenden Sach- und Kampfschriften auf. Obwohl aber in seinen Erzählwerken alles – wenn auch raffiniert komponierte – Eins-zu-eins-Abbildung scheint, lautet ihre entscheidende implizite These doch, dass der Mensch in seiner Sprache, in ihren Phrasen, toten Metaphern und banalen Lebensweisheiten die Wirklichkeit weniger begreift als zurichtet oder abwehrt. Die Misere seines Helden ist auch die Misere der Sprache, in die er sich ohne eigenes Zutun geworfen sieht.

Exemplarisch und ohne Gnade mit sich selbst führt der Cum-Grano-Salis-Autobiograf Gerhard Henschel an seiner Figur vor, welch hartes Geschäft das Heranwachsen ist. Was im „Kindheitsroman“ noch die Frische einer Erstbegegnung mit der Wirklichkeit besaß, wird im „Jugendroman“ zum Drama der Ottonormaladoleszenz. Einzig an Nichtereignissen reich ist das Leben des Martin Schlosser in Meppen. Die Belehrungen seiner Eltern muss er erdulden, seine kleine Schwester geht ihm endlos auf die Nerven, die große Schwester ist im Prinzip aus dem Haus. Im Hobbykeller werkelt der Vater. Dessen Unfall mit einer Säge sorgt für das einzige Splattermoment des Romans. Wer „Die Liebenden“ kennt, erlebt im Hobbykellerrückzug des Vaters das Drama der Schlosser’schen Ehe noch einmal mit. Nun aber mit dem Blick des Sohns, der die tiefgehende Entfremdung, die sich ereignet, nicht wirklich erfasst.

Was Henschel tut, sieht einfach aus. Er sammelt die Vergangenheit in Realien eines bundesrepublikanischen Lebens. Von Bundesliga-Ergebnissen zum Konfirmanden-Unterricht, vom Fußballtraining zum Klavierüben. Das sexuelle Erwachen ist ein Kapitel für sich, eine Sache von Lektüreerlebnissen, nicht von Zoten. Dazwischen immer wieder die grandiosen Briefe von Martins Freund Michael, der noch immer in Vallendar lebt, dem Ort, den die Schlossers für Meppen hinter sich ließen. Wie sich Michael in den Schilderungen der unfassbaren Trostlosigkeit des Lebens in Vallendar überschlägt, gehört zu den komischen Höhepunkten des „Jugendromans“. Und dass Henschel darauf beharrt, den Horizont seiner Helden nicht um einen Millimeter zu überschreiten, ist aller Bewunderung wert. Die große Politik, der Terrorismus, die DDR, das alles kommt durchaus vor, aber in der Beleuchtung durchs zunächst noch recht funzlige Licht von Martin Schlossers Bewusstsein.

In die Falle abscheulicher Nostalgie und billiger „Generation Golf“-Affirmation eines durch und durch spießig-miefigen bundesrepublikanischen Lebens geht Henschel nie. Er macht vielmehr sichtbar und spürbar, wie dringend erlösungsbedürftig sein ganz unbesonderer Held eigentlich ist. Vor dem literarischen Mittel, das falsche Leben im falschen durch literarische Ungenießbarkeit abzubilden, schreckt er dabei zurück. Das Erstaunliche ist vielmehr, wie er’s hinkriegt, die Ödnis im Großen und Ganzen in Unterhaltsamkeit zu verwandeln. Was er den Göttern der ästhetischen Konsequenz dabei schuldig bleibt, dankt ihm entschieden der Leser.

Signale der Emanzipation

Der „Jugendroman“ endet mit dem Jahr 1978, da ist der Held sechzehn. Henschel macht, das hat er schon angekündigt, danach weiter. Im wirklichen politischen Leben liegt also das Grauen der späten Schmidt- und der endlosen Kohl-Jahre jetzt unmittelbar voraus. Dennoch besteht Hoffnung. Für Martin Schlosser, aus dem der Henschel von heute am Ende doch werden muss, sind erste Signale der Emanzipation deutlich gesetzt.

Er liest den Spiegel, dann auch Konkret, sein (sprach)politisches Bewusstsein erwacht. Er hat die Beatles entdeckt, geht ins Kino, stänkert gegen Franz-Josef Strauß, und wird zum Mitgründer der Schülerzeitung. So bekommt Henschels bei aller Unterhaltsamkeit oft deprimierendes Chronik-Projekt doch noch das Zeug zum Entwicklungsroman. Am Ende steht, wenn’s gut geht, die Geschichte eines Mannes, der das von Herzen unerquickliche Land, in dem er lebt, als das, was es ist, zu erkennen auf die harte Tour lernt.

Gerhard Henschel: „Jugendroman“. Hoffmann & Campe, Hamburg 2009, 544 Seiten, 23 Euro