Verschluckt vom Dienstleistungsgewerbe

Eine Verkäuferin möchte so gut funktionieren
wie der Fluss der Waren im Supermarkt:
„Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata

Sayaka Murata: „Die Ladenhüterin“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag Berlin 2018, 160 Seiten, 18 Euro

Von Katrin Bettina Müller

Man stelle sich eine weiße Pappschachtel vor, innen hell erleuchtet, mit Geräuschen, Musik und Stimmen gefüllt, mit leckeren Düften und höflichen Menschen. Außen aber ist Wirrnis, Dunkelheit, Nichteinzuordnendes. In solch einer Schachtel spielt der Roman „Die Ladenhüterin“ der japanischen Autorin Sayaka Murata.

Ihre Ich-Erzählerin, Keiko, ist 36 und arbeitet seit 19 Jahren als Supermarktsaushilfe in einem Konbini, der Tag und Nacht geöffnet ist. Hier funktioniert sie, hier fühlt sie sich sicher; die Welt außerhalb aber irritiert und beängstigt sie. Je fester die Erzählerin sich aber an die Welt der antrainierten Freundlichkeit im Inneren des Ladens klammert, desto neugieriger wird der Leser auf das Außen dieser Welt, auf das, was Keiko zu dieser freiwilligen Reduktion auf ihre Funktion als Aushilfsverkäuferin getrieben hat. Dieses Außen aber enthält der knapp und eben wie mit absichtsvoll gesetzten Scheuklappen erzählte Roman dem Leser vor. Und das kann ganz schön unzufrieden machen.

Das gilt für mich zumindest. Aber längst nicht für alle Leser des Romans. In Japan erhielt die Autorin 2016, wie ihre Erzählerin 36 Jahre alt und als Verkäuferin in einem Supermarkt arbeitend, für „Konbini Ningen“ den renommierten Akutawaga-Literatur-Preis und verkaufte über eine halbe Million Exemplare.

Dass die Autorin den Supermarkt als ideales Gelände für Figurenstudien beschrieb, war dort in vielen Rezensionen zu lesen. Tatsächlich studiert auch die Figur Keiko ihre Kollegen genau, ja sie imitiert sie, ahmt ihre Stimmen nach, zitiert in Dialogen deren Sätze, orientiert sich an Haltung und Gestus; sie schneidert sich eine zweite Haut aus den Mustern, die ihr erfolgversprechend scheinen. Eine Haut, die sie davor schützen soll, durch ihre soziale Andersartigkeit, die von ihrer Familie, nicht aber von ihr selbst, als Mangel empfunden wird, aufzufallen.

Keiko empfindet, so beschreibt sie sich selbst, keine Empathie. In Konfliktsituationen erscheint ihr Gewalt oft als praktischste Lösung. Lernt aber, schon um nicht mit Therapien bedrängt zu werden, das zu verbergen. Dass sie schließlich sogar einen unsympathischen Kollegen heiraten will, nur um als Alleinstehende – die „Ladenhüterin“ – nicht aus der Norm zu fallen, bringt ein wenig Bewegung in die Handlung des Romans.

Ist Kälte nicht ideal, um als Rädchenim Getriebe zu funktionieren?

Ihre Andersartigkeit bleibt das interessante Motiv des kurzen Romans. Nicht nur, weil sie unerklärbar bleibt, sondern mehr noch, weil sich ein leiser Verdacht einschleicht, eine Möglichkeit gerade im Nichterzählten doch mehr zu hören als im Ausgesprochenen. Leidet Keiko an fehlender Empathie oder leidet sie womöglich an fehlender Heuchelei? Ist ihre mühsam verborgene Kälte nicht eigentlich ideal, um als Rädchen im Getriebe zu funktionieren? Spiegelt sie nicht genau das, was die Gesellschaft verlangt? Liest man nicht eigentlich eine Satire auf ein System, das den reibungslosen Fluss von Waren und die Erzeugung von Bedürfnissen danach primär setzt? Wie gesagt, das bleibt ein Verdacht.

Genährt wird er auch durch einen anderen Künstler aus Japan, den Theaterregisseur Toshiki Okada, der vor vier Jahren ein viel durch Europa tourendes Stück herausbrachte, „Super Premium Soft Double Vanilla Rich“. Auch dort war der Schauplatz ein Tag und Nacht erleuchteter Supermarkt, dessen Angestellte den Sinn und das Glück ihres Lebens unvermeidbar an den Fluss der Waren gekoppelt sahen. Wie Keiko trainierten auch sie ständig, Kopien von etwas anderem zu werden.

Wie das Dienstleistungsgewerbe den Menschen vereinnahmt und die Persönlichkeit verschluckt, bis er sein Glück in der perfekten Anpassung findet, scheint ein großes Thema in Japan zu sein.