Ein Affront fürs Kirchenpublikum

Die Peiniger Christi sind wir selbst: In John Eliot Gardiners Biografie „Bach. Musik für die Himmelsburg“ erfährt man, wie sich der Komponist an der Oper orientierte und wie modern seine Passionen sind

Bachs Passion entfaltet eine größere dramatische Wucht als jede andere

Von Tim Caspar Boehme

Am Dienstag titelte die Bild-Zeitung: „Polizist opferte sich für Geisel: Der Held aus Frankreich erinnert uns an Ostern“. Dass jemand sich für andere hingibt, mag irgendwie an die biblische Ostergeschichte denken lassen, in deren Verlauf der ans Kreuz geschlagene Jesus stellvertretend für die Sünden der Menschheit stirbt. Andererseits ist der Vergleich obszön unpassend.

Die Geisel, für die sich der Polizist in einem Supermarkt im südfranzösischen Trèbes austauschen ließ, war keine „Sünderin“, sondern einfach Kundin. Und da die Frage, wie real die Kreuzigung des Sohns Gottes ist, zumindest als strittig gelten kann, sollte man die Geschichte vielleicht eher symbolisch verstehen. Auf jeden Fall als Fortschritt gegenüber echten Menschenopfern. So gesehen ist die Opferbetrachtung der Bild zu dem von einem mutmaßlichen Terroristen erschossenen Polizisten höchst archaisch.

Die Passionsgeschichte jedoch kann man sich auch dieser Tage noch zu Ostern zu Gemüte führen, ob man ihre religiöse Botschaft nun in Anspruch nimmt oder nicht. Zu großen Teilen ist dies das Verdienst von Johann Sebastian Bach, dessen Passionen die erbauliche Musik rund um Karfreitag bis heute – mit einer Unterbrechung von Bachs Tod 1750 bis zur Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy 1829 – anführen.

Dass die Matthäuspassion und ihr „kleinerer“ Bruder, die Johannespassion, weniger geneigten Hörern mitunter arg sakral und öde erscheinen können, ist nicht die Schuld von Bach, sondern symbolischer Ballast, der durch Rezeptions­traditionen und den religiösen Kontext bedingt sein dürfte. Bach und seine Musik können da wenig für. Vielmehr war Bach, wie der britische Dirigent John Eliot Gardiner in seiner Biografie „Bach. Musik für die Himmelsburg“ ausführt, unter seinen Zeitgenossen eher konträren Reaktionen ausgesetzt.

So war schon Bachs an der Affektsprache der Oper orientierte erste Passion, die Johannespassion von 1724, ein Affront für das Leipziger Kirchenpublikum. Das stand in streng lutherischer Tradition und wollte zu Kirchenfeiertagen lieber musikalisches Schwarzbrot. Bachs Passion hingegen „entfaltet eine größere dramatische Wucht als jede andere Passion vor oder nach ihr“, so Gardiner. „Das Schockierende muss für Bachs damalige Zuhörer gewesen sein, dass all das in einer Kirche erklang.“

Genau deshalb ist diese Musik immer noch von Interesse: Es ist Bachs „Wiederbelebung und Weiterentwicklung jener Prinzipien, die bereits die Gründerväter der Oper (allen voran Monteverdi) inspirierten; denn deren oberstes Ziel bestand darin, sich die Macht der Musik zunutze zu machen, um die Leidenschaften ihrer Zuhörer anzusprechen.“

Gardiner zeigt sich zugleich beunruhigt von der „Dämonisierung der Juden in beiden Passionen, die Bach gelegentlich vorgeworfen wird“. Wobei er darauf hinweist, dass Spuren von Antisemitismus fester Bestandteil der Evangelien selbst seien, Bachs Passionen aber im Vergleich zu anderen Komponisten seiner Zeit von „antijüdischen Gedanken“ auffällig frei seien. Und bei den musikalischen Mitteln findet Gardiner sogar das „Eingeständnis einer Kollektivschuld in den zerknirschten Reaktionen der Christen in den Chorälen – versinnbildlicht dadurch, dass Bach für die aufgebrachte Menge und die Gemeinschaft der Gläubigen ausdrücklich dieselben Sänger vorsieht. Ebendas macht Bachs Passionen zu einer derart erschütternden Erfahrung: dass die Peiniger Christi, von denen wir uns voller Wut und Abscheu abwenden, wir selbstsind.“

Auch hier zeigt sich Bach, der theologisch wie musikalisch weitgehend Autodidakt war, entschieden modern. Theologische Fragen über Sängerkörper zu verhandeln, darauf muss man erst einmal kommen.

John Eliot Gardiner: „Bach. Musik für die Himmelsburg“. A. d. Engl. von Richard Barth. Carl Hanser Verlag, München 2017, 760 Seiten, 34 Euro