Ohne Spuren bist du tot

Graffiti ist mehr Straße als Street-Art. Das Theaterstück „Berlin DNA“ von Tamer Yiğit im HAU unterziehtdie Hauptstadt von Kreuzberg aus einem Reality-Check und bildet unterschiedliche Lebensläufe ab

Hier wird Turkish-Psychedelia gespielt, die fetten HipHop-Beats warten im Spind Foto: Foto: Dorothea Tuch

Von Jens Uthoff

Die Achtziger in Berlin! Das waren noch Zeiten, sagt Tamer Yiğit. Charley’s War und so. Geile Band. Wie hieß noch mal das Album von denen? Und dann unsere Rapcrew, Islamic Force. Fette Beats, amtlich produziert von Boe B. und Maxim, später stieß Killa Hakan mit dazu. Damals war HipHop gerade erst geboren, Mann! Und dann war Boe B. eines Tages tot. Einfach so. Überdosis. Weißt du, diese Zeit hat mich stark geprägt, Zamponi.

Es ist dieser Quasi-Monolog, mit dem Regisseur und Schauspieler Tamer Yiğit am Freitagabend sein neues Stück „Berlin-DNA“ im HAU2 anfängt, noch bevor es richtig begonnen hat. Die Zuschauer suchen noch nach ihren Plätzen, da steht Yiğit schon mit umgehängter Gitarre auf der Bühne und erzählt Lichtdesigner Sebastian Zamponi, der hinter dem Mischpult sitzt, Anekdoten aus jener Zeit. Diesen Zamponi wird Yiğit im Laufe des Abends mehrfach konsultieren, um seine eigene Geschichte, die eines Deutschtürken in der Kreuzberger Subkultur, Revue passieren zu lassen.

Die Stadt und ihre Extreme

Nachdem er zuletzt eher als TV-Schauspieler in Erscheinung getreten ist, kehrt Yiğit mit „Berlin-DNA“ ans HAU zurück, wo er zwischen 2005 und 2011 einige Stücke inszeniert hat (zum Beispiel „Onkelz“). Er selbst fungiert eher als Sidekick, in den Hauptrollen sind Aylin Shorty Bugur, Nilay Bugur und Semra Kartal zu sehen. Auch sie berichten in Dialogen und Monologen davon, wie Berlin und seine Extreme sie geprägt haben, wie sie zwischen türkischen Familientraditionen, Kiezseligkeit und Großstadtalltag hin- und herswitchen. „Berlin-DNA“ hat viele Real-Life-Elemente, Schauspielerin Nilay Bugur, die sich als „echter Bulle“ vorstellt, ist auch ein echter Bulle; ein Späti-Verkäufer im Publikum ist auch ein Späti-Verkäufer, und Tamer Yiğit ist sowieso Tamer Yiğit. Als Antagonistinnen stehen sich dabei zunächst Nilay und Shorty gegenüber – Letztere erklärt, sie sei Sprayerin, Writerin: Ohne Spuren bist du tot, ich setze meine Tags überall hin, ich bin ein Kind der Achtziger, sagt sie. Und klärt all die unwissenden, subkulturlosen Menschen darüber auf, dass Graffiti wirklich Ghetto und Street-Art die Kunst für die Privilegierten ist. Semra, die Dritte im Bunde, beschwert sich wiederum, dass sie von ihren Verwandten dazu gedrängt werde, die traditionellen türkischen Instrumente zu spielen („Du must Bağlama spielen, Semra“).

Von Polizeieinsätzen und damit von Diskursen, die die Stadt prägen, erzählt hingegen Nilay: Wie sie vom Terror am Breitscheidplatz erfuhr. Wie sie Angst bei einem Einsatz im Görli für Ruhe sorgen sollte. „Kiffen wolln se alle, aber die Dealer will keiner vor der Nase haben“, sagt die Polizistin Nilay. Und zwischendurch bittet Tamer Yiğit besagten Zamponi, doch mal kurz das Saallicht wieder anzumachen. Weißt du noch im Osten, Zamponi? Neunziger, Hoyerswerda und so? Wir haben wirklich alles verdroschen, was Glatze hatte. Wenn jemand Haarausfall gehabt habe: Pech gehabt.

Berlin-DNA zeigtein vielgestaltiges Stadt-Konglomerat als Labor

Es ist ein Nebeneinander der unterschiedlichen Lebensläufe und des Großstadtgeschehens, das „Berlin-DNA“ abbildet. Ein Bühnenbild braucht es dazu kaum – viele metallene Spinde, jeweils unterschiedlich angeordnet und mit Tags versehen, genügen. Zwischendurch dienen sie als Leinwand, wenn Videos auf sie projiziert werden. Im Vordergrund steht aber klar das Sprechtheater, mit einer herausragenden Nilay Bugur, deren Tirade über türkische Hochzeiten man später noch im Kopf haben wird: Jede Woche Hochzeit, immer 50 Euro, 100 Euro geben, was denkt ihr, wie viel ich verdiene? Ladet mich nicht ein, sagt sie.

Aylin Shorty Bugur besticht dagegen in einer Szene als Spätiverkäuferin, und Semra Kartal und Tamer Yiğit sorgen dafür, dass diese Erzählungen des Nebeneinanders funktionieren. Auch mit dem Soundtrack, den er mit vierköpfiger Band spielt, weiß Yiğit zu überzeugen: Ob rockend mit Turkish-Psychedelia oder mit HipHop-Beats, die immer noch fett sind.

Vielleicht ist es mehr Kreuzberg-DNA als „Berlin-DNA“, die Yiğit hier auf die Bühne bringt, die Biografien sind auch in erster Linie die der zweiten und dritten Generation sogenannter Gastarbeiterfamilien. Die Berlin-DNA aus Sicht, sagen wir, US-Zugezogener im Neukölln der Gegenwart wird eine völlig andere sein. Aber genau davon handelt dieser kurzweilige Theaterabend ja vielleicht auch: Berlin als Konglomerat vieler unterschiedlicher Blasen, die einander überlappen, die aber alle ihre spezifisch eigene Vorgeschichte haben. Zum Beispiel in der Punkszene und den HipHop-Gangkulturen der achtziger Jahre.

Nächste Aufführungen: 9. und 10. April, HAU2, 20 Uhr