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Archiv-Artikel

Der Rhythmus macht’s

Erste Erfahrungen aus Ganztagsschulen zeigen: Das Verlängern des Schultags in den Nachmittag hinein verändert nicht allein die in der Schule verbrachte Zeit, sondern auch das Lernen und die Atmosphäre zwischen LehrerInnen und SchülerInnen

VON SARAH MERSCH

„Bei uns herrscht Aufbruchstimmung.“ Gerd Gerhard, Schulleiter aus Hamburg, ist begeistert. Seit 2005 ist „seine“ Schule an der Altonaer Straße eine Ganztagsschule. Begabtenförderung, Unesco-Schule, Berufsbildung für Jugendliche, Herkunftssprachenunterricht für türkischstämmige Schüler und, und, und. Gerhard ist kaum zu bremsen, wenn er über das Projekt Ganztagsschule spricht. An der Altonaer Straße im Schanzenviertel lernen 375 Schüler aus 32 Nationen an vier von fünf Tagen verpflichtend bis 16 Uhr. Unterrichtet wird nicht mehr in sechs Stunden à 45 Minuten. Stattdessen wurden die klassischen Strukturen aufgebrochen. Jetzt ist der Tag unterteilt in längere Unterrichtsblöcke, Pausen und Fördereinheiten.

Das pädagogische Zauberwort lautet Rhythmisierung. Anstatt sechs Stunden am Stück im Klassenzimmer zu sitzen und Gedichte, chemische Formeln oder historische Daten auswendig zu lernen, sollen sich jetzt Phasen intensiven Lernens mit eher entspannenden Momenten abwechseln. In den meisten Ganztagsschulen bedeutet dies, dass drei 90-minütige Unterrichtseinheiten über den Tag verteilt werden. Dazwischen bleibt Zeit für Frühstücks- und Mittagspausen, Kunstprojekte, Schülerfirmen oder Theaterspielen.

Die Umstellung zur Ganztagsschule verlangt von allen Beteiligten Flexibilität und Umgewöhnung. „Natürlich ist die Abstimmung manchmal schwierig, gerade am Anfang“, berichtet Gerhard. „Dann fragt der Lehrer, warum ein Schüler jetzt gerade nicht bei ihm im Deutschunterricht, sondern beim Klettern ist.“ Aber auch das Klettern ist nun mal Teil des Konzepts. Schließlich sollen Ganztagsschulen auch dem Manko deutscher Schulen abhelfen: der fehlenden Möglichkeit für Schüler, individueller zu lernen.

Während die Schüler der Altonaer Straße die Umstellung zur Ganztagsschule sofort akzeptiert haben, sind die Reaktionen bei Lehrern und Eltern gemischt. Gerade für die Lehrkräfte sind die langen Präsenzzeiten in der Schule noch gewöhnungsbedürftig, zumal noch nicht alle dort einen eigenen Arbeitsplatz haben, berichtet der Schulleiter. „Die Unterstützungsmodelle der Behörden laufen noch nicht reibungslos. Als Schulleiter muss man immer nachhaken.“ Trotz aller Anlaufschwierigkeiten will er aber keine Behördenschelte üben. „Man begegnet uns mit viel Wohlwollen und Hilfe.“

Die Hamburger Schule ist ein Musterbeispiel dafür, wie Pädagogik über den ganzen Tag aussehen kann. Bis Ende dieses Jahres will das Berliner Bildungsministerium zusammen mit den Ländern 5.000 weitere Ganztagsschulen schaffen. Vier Milliarden Euro investiert der Bund, damit „der größte gesellschaftliche Skandal in der BRD, die soziale Selektion im Bildungswesen“ (so Bildungsministerin Edelgard Bulmahn, SPD), ein Ende nehme.

Doch in der Konzeption und Umsetzung der Schulen gibt es gewaltige Unterschiede. Je nach Schule gibt es gebundene oder offene Ganztagsangebote. In der offenen Ganztagsschule findet der Unterricht wie bisher am Vormittag statt. Am Nachmittag können die Schüler an Arbeitsgemeinschaften, Hausaufgabenbetreuung oder Freizeitaktivitäten teilnehmen – auf freiwilliger Basis. Im Gegensatz zu dieser abgespeckten Version steht die gebundene Ganztagsschule. Zentraler Unterschied ist die Verteilung des Unterrichts über den Tag. Die Schüler sind daher verpflichtet, auch den Nachmittag in der Schule zu verbringen. Dafür bleibt in der gebundenen Schule mehr Freiraum, den Unterricht individueller zu gestalten, längere Lerneinheiten einzuplanen oder die verschiedenen Jahrgänge zu mischen.

Wie viel bei aller Diskussion über gebundene oder ungebundene Form, Jahrgangsmischung und rhythmisierten Unterricht auch vom Engagement von Lehrern und Schülern abhängt, zeigt die Warnowschule aus Papendorf, wenige Kilometer südlich von Rostock. Seit diesem Jahr bietet die Schule offiziell Ganztagsbetreuung an, doch bereits im Jahr davor initiierten Lehrer und Eltern einen freiwilligen Probelauf. „Wir haben sehr engagierte Lehrer. Aber die Schüler sind nicht alle begeistert, dass sie jetzt länger Schule haben“, berichtet Schulsprecherin Patricia Müller. Während der Unterricht ganz normal am Vormittag stattfindet, können die Kinder und Jugendlichen nachmittags Plattdeutsch lernen oder im Chor singen. Seit 1991 hat die Schule einen eigenen Schulwald gepachtet. Inzwischen gibt es auf dem 2,5 Hektar großen Gelände Teiche, ein grünes Klassenzimmer und eine Streuobstwiese. „Gummistiefel gehören bei uns zur Grundausstattung“, sagt der betreuende Lehrer Thomas Gehrke. Inzwischen kommen immer mehr Klassen von außerhalb, um den Wald der als „Umweltschule in Europa“ ausgezeichneten Warnowschule zu erleben. Doch nicht nur die Rostocker Stadtkinder fühlen sich dort wohl, auch die Bienen der Schüleraktiengesellschaft haben dort ihr Zuhause. Deren Honig vermarktet die Schülerfirma Hobi-SAG, die Honigbiene-Schüler-Aktiengesellschaft, in Eigenregie.

Welche Form der Ganztagsschule sich durchsetzen wird, hängt auch vom Ausgang der Wahlen ab. Noch-Bildungsministerin Bulmahn plädiert für eine umfassende Umstrukturierung. „Ganztagsschulen sind nicht automatisch besser, wir brauchen vor allem veränderte pädagogische Konzepte.“ Unionsregierte Länder tendierten bisher eher zur offenen Ganztagsschule, um das Unterrichtskonzept nicht antasten und keine zusätzlichen Lehrer einstellen zu müssen (siehe Kasten). Sind die Lehrer engagiert, dann bleibt es in der offenen Ganztagsschule zwar an der Zweiteilung in vormittags Schule und nachmittags betreute Freizeit, aber auch das kann zu einer besseren Betreuung führen. Um wirklich individuell auf jeden Schüler einzeln eingehen zu können und langfristig neue Lernformen zu etablieren, reichen sechs Stunden am Vormittag nicht aus. Dafür muss die Struktur von Schule und Unterricht neu gedacht werden. Und das geht eigentlich nur in der gebundenen Ganztagsschule.