Ein Ausweg aus dem Sprachschicksal

Die amerikanische Autorin Jhumpa Lahiri erfindet sich radikal neu: Viele Jahre lang lernte sie besessen Italienisch – auch um aus ihrer Herkunft zu fliehen

Jhumpa Lahiri: „Mit anderen Wor­­ten“. A. d. Italienischen v. Margit Knapp. Ro­wohlt, Rein­bek 2017, 142 Seiten, 14,95 Euro

Von Katharina Granzin

Die amerikanische indischstämmige Autorin Jhumpa Lahiri ist eine skrupulöse Beobachterin und Beschreiberin der Welt. Eine Genauigkeit des Empfindens, Sehens und Denkens ist ihrer Prosa eigen. Dieser auffällige Zug hängt mit dem Gefühl einer gewissen kulturellen Zerrissenheit zusammen: zwischen dem Amerika, in dem sie selbst aufwuchs, und der indischen Herkunft der Eltern; zwischen der Muttersprache Bengalisch, Lahiris einziger Sprache in den ersten vier Lebensjahren, und der englischen „Stiefmuttersprache“, wie sie es nennt, in der sie lesen und schreiben lernte. Auch die Figuren ihrer Geschichten kennen diesen Zustand. Ein Hauch von Sehnsucht durchzieht Lahiris Short Storys und Romane, aber auch eine fast schicksalhafte Unentrinnbarkeit, mit der die Protagonisten in ihren Familiengeschichten verhaftet sind.

Die Autorin selbst hat für sich mittlerweile einen Ausweg aus dieser scheinbaren Schicksalhaftigkeit gefunden: eine dritte Sprache. Über viele Jahre hat sie (die einen Doktortitel im Fach „Renaissance Studies“ aufweisen kann) Italienisch gelernt – bis sie schließlich sogar in der Lage war, ein ganzes Buch auf Italienisch zu schreiben: „In anderen Worten. Wie ich mich ins Italienische verliebte“ erzählt die Geschichte einer langen linguistischen Reise. In den neunziger Jahren begann Jhumpa Lahiri damit, gewissenhaft Wortlisten anzulegen, Privatlehrerinnen zu engagieren. Vor ein paar Jahren schließlich wagte sie den ganz großen Sprung: Mit Mann und Kindern zog sie nach Rom. „Zur Vorbereitung beschließe ich sechs Monate vor der Abfahrt, nichts mehr auf Englisch zu lesen“, schreibt Lahiri. „Von nun an nur noch Italienisch.“

Diese Hingabe ist ein bisschen unheimlich. Und warum genau soll es interessant sein, die sprachliche Selbstvergewisserung einer Besessenen zu lesen? Anders als in ihrer fiktionalen Literatur schreibt Lahiri in „Mit anderen Worten“ nur über sich. Nichts ist erfunden, vieles weggelassen. Nur der Kern des Plots „Wie ich mich ins Italienische verliebte“ ist übrig, plus zwei Kurzgeschichten, die Lahiri ebenfalls auf Italienisch schrieb. Manchmal finden sich im Text akribische Auflistungen von Wörtern, die ihr in der Drittsprache Schwierigkeiten bereiten. Die Autorin erläutert ihre Verwirrung über die Aspekte der italienischen Verbformen und verschweigt nicht, dass sie sich in ihrem römischen Alltag oft gekränkt fühlt, wenn sie ihres unitalienischen Äußeren wegen auf Englisch angesprochen, ihr amerikanischer Mann dagegen für einen Italiener gehalten wird. Das allerdings ist schon das Äußerste an autobiografischem Familientratsch.

Ändert sich das Denken, wenn man in einer anderen Sprache schreibt?

Welche Umstände der Familie die Übersiedlung möglich machen; wie ihr Alltag aussieht; wo die Kinder zur Schule gehen oder der Gatte arbeitet: Nichts davon spielt eine Rolle. Es ist Jhumpa Lahiri kein Bedürfnis, von ihrem Leben zu erzählen. Ihr geht es um einen einzigen, exemplarischen Aspekt davon: das Verhältnis des (schreibenden) Menschen zur Sprache. Wie hängen Sprache und Identität zusammen? Was bedeutet es, in einer Sprache zu Hause zu sein? Ändert sich die Art des Denkens, wenn man in einer anderen Sprache schreibt? Und woher kam in ihr selbst dieser tiefe Wunsch, sich das Italienische anzueignen? Dazu schreibt Lahiri: „Ich glaube, Italienisch zu lernen war eine Flucht vor dem anhaltenden Widerstreit des Englischen und des Bengalischen in meinem Leben. Eine Zurückweisung von Mutter- und Stiefmuttersprache. Ein unabhängiger Weg.“

Indem sie ihrem Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe zu einer neuen Sprache einerseits nachgibt, sich andererseits bei ihren linguistischen Bemühungen genau beobachtet und damit schreibend zu ihrem eigenen Forschungsgegenstand macht, hat Jhumpa Lahiri eine Art verdichtetes psycholinguistisches Selbstporträt entworfen, das aber wegen der sachlichen Genauigkeit seiner Beobachtung schon wieder universelle Gültigkeit anstrebt. Was passiert mit uns, wenn wir andere Sprachen lernen? Warum tun wir das? Und was unterscheidet den schreibenden vom sprechenden Menschen? Wer sich von solchen Fragestellungen angezogen fühlt, wird dieses Buch als inspirierende Lektüre empfinden. Ganz nebenbei lernt man auch das eine oder andere über das Italienische.