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Archiv-Artikel

Merkels „Mehr an Gerechtigkeit“

Jeder zahlt dieselbe Kopfpauschale, jeder den gleichen Steuersatz. Was viele logisch anmutet, hätte schwerwiegende politische Auswirkungen

VON CHRISTIAN FÜLLER

Nach dem Treffen mit den Gewerkschaftsbossen gestern war Angela Merkel wie immer. Freundlich, verbindlich – und ein bisschen sibyllinisch. „Auch wenn wir gewinnen, werden Gesetzesvorhaben nicht ohne Gespräch mit den Gewerkschaften ablaufen“, beschrieb sie ihren Stil als Kanzlerin. Nicht nur die Gewerkschafter rätselten hinterher, was der Begriff „ablaufen“ sagen sollte.

Nein, wie Maggie Thatcher, die den britischen Gewerkschaften einst brutal die Macht entzog, tritt die Regierungschefin in spe nicht auf. Dennoch steht sie dieser angelsächsischen Variante des Wohlfahrtsstaats näher als dem deutschen Sozialstaatsmodell. Angela Merkel wäre nicht nur die erste Frau im Kanzleramt. Sie würde auch einen grundlegend anderen Gerechtigkeitsbegriff verwenden als die christdemokratischen Urväter der sozialen Marktwirtschaft. Walter Eucken oder Ludwig Erhard stellten stets das Soziale vor den Markt. Merkel nicht. Sie sagt: „Damit Solidarität und Gerechtigkeit wieder gelebt werden können, muss die Freiheit in unserer Wertehierarchie wieder deutlich von unten nach oben kommen.“

Solche verwinkelten Programmsätze sind keine sprachlichen Fehlleistungen. Sie beschreiben präzise das, was Merkel seit Übernahme des Parteivorsitzes in der CDU betrieben und auch über 20 Millionen Fernsehzuschauern nicht verheimlicht hat: Sie hat ihre Partei fit gemacht für das 21. Jahrhundert. Das heißt, programmatisch umgepolt auf die Maxime „Freiheit vor Gerechtigkeit“.

Die Abgeordneten und Vertrauten rund um Angela Merkel, beinahe allesamt Opponenten in der Ära Kohl, bekommen feuchte Augen, wenn sie vom Parteitag in Leipzig 2003 berichten. Damals sprachen Beobachter von einer neoliberalen Zeitenwende in der Union. Selbst die christsoziale Unionsschwester aus München protestierte scharf. Aber auf dem Parteitag selbst war etwa Norbert Blüm ziemlich einsam, als er Merkels neue Ideen mit „platt gewalzter Gerechtigkeit“ beschrieb. Ganze 5 von 1.001 Delegierten gaben Blüm in der Schlussabstimmung Recht.

Seit Leipzig wird in der Union Gerechtigkeit anders definiert. Gerechtigkeit heißt – politisch in den Sozialsystemen ausgeführt – nicht mehr: Starke Schultern tragen mehr als schwache. Gerechtigkeit bedeutet auch nicht mehr – wie es Verfassungsinterpreten ausdrücken –, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der neue Gerechtigkeitssatz ist simpler. Er sagt, alle werden exakt gleich behandelt. Das heißt, jeder zahlt, egal ob Klein- oder Vielverdiener, dieselbe Kopfpauschale. Jeder zahlt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den gleichen Steuersatz von 25 Prozent.

Was viele auf den ersten Blick einfach und logisch anmutet, hat enorme Auswirkungen – politisch wie finanziell. Es hebelt den uralten Grundsatz der Steuerprogression auf, der besagt, dass Gutverdiener absolut und relativ mehr Steuern zahlen sollen als Bezieher kleiner Einkommen. Und es senkt auch in der Krankenversicherung drastisch die Beiträge für Gutverdiener.

Angela Merkel sagt, darauf angesprochen, immer das Gleiche. Sie spricht zunächst nicht von gerecht oder ungerecht, sondern davon, dass es nicht so weitergehen könne. „Wir müssen den Befreiungsschlag wagen.“ Erst dann kommt sie wieder auf die Gerechtigkeit zurück. Dass nämlich neue Systeme am Ende gar „ein Mehr an Gerechtigkeit ermöglichten“. Wie das genau geht, wird man sehen. Nach der Richtungswahl am 18. September.