editorial
: Die Aktualität des gelebten Lebens

Viele Bücher in dieser literataz behandeln Historisches. Warum das kein Rückzug aus der Gegenwart ist

Kürzlich erschreckten Umfragen die Buchbranche. Nach ihnen kaufen weniger Menschen Bücher, die Umsätze können die Verlage nur deshalb halten, weil sie die Preise angehoben haben.

Was man aus der Branche über mögliche Analysen und Gegenmaßnahmen hört, macht aber auch nicht froh. Leseförderung wird angemahnt – ist ja auch eine gute Sache. Doch scheint es eben keineswegs ausgemacht, dass Menschen, die im Schulalter von Lesepaten etwas vorgelesen bekommen haben, dann ein Leben lang Leserinnen und Leser bleiben. Wirklich schlimm sind die Stoßrichtungen der Marketingmaßnahmen zum Bücherkauf. Lesen wird als „Wellness für die Seele“ verkauft, als ganzheitliches Erlebnis, das gegen die Zerstreuung der digitalen Medien gesetzt ist. Als ob man sich inzwischen zur Entspannung nicht eher mit einem Tablet aufs Sofa zurückzieht. Und auf Reisen vertrauen die Menschen halt auch eher mindestens ebenso sehr dem WLAN-Volumen im ICE, als dass sie noch mal schnell in der Bahnhofsbuchhandlung vorbeischauen.

Mit pädagogischen Maßnahmen und Marketingkonzepten, die genauso laufen wie zuletzt, nur intensiver, wird man wenig reißen. Und vor allem: Nehmen sie Bücher überhaupt ernst? Und: Verniedlichen sie das Lesen und damit die Leserinnen und Leser nicht sogar? Ganz ehrlich, wem es um Wellness und um Abschalten geht, der braucht Bücher mittlerweile tatsächlich nicht. Oder zumindest nicht nur.

Was Bücher aber können: Sie verbreitern das, was Gegenwart heißt, sie verengen Gegenwart eben keineswegs nur auf die aktuellen Debatten. Uns ist bei der Konzeption dieser Beilage aufgefallen, wie viele historische Bezüge sich aus den Büchern ergeben, die uns wirklich in diesem Frühjahr interessieren. Julia Schoch bringt sogenannte Ost-Identitäten, die von der Wende tangiert wurden, hinein. Arno Geiger spannt den erzählerischen Bogen zum Zweiten Weltkrieg zurück. Der Verleger und Herausgeber Peter Graf entdeckt Romane aus den dreißiger Jahren erfolgreich wieder. Einer der großen Bucherfolge ist das Epos von Elena Ferrante, eine Entwicklungsgeschichte von den fünfziger Jahren bis nahe heran ans Heute. Johann Scherer erzählt von der Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma – und noch manche Beispiele mehr. Es ist eben kein Rückzug aus der Gegenwart, sich für solche Stoffe zu interessieren. Es ist eher ein Interesse für die Gegenwart: einer reichen, als gelebtes Leben begriffenen Gegenwart nämlich, die sich auf die Tagesaktualität keineswegs reduzieren lässt.

In diesem Sinne: Viel Spaß mit dieser ­literataz. drk