piwik no script img

Die Spur verfolgen, sie führt nach Paris

In Frankreich gilt sie als eine Pionierin des zeitgenössischen Tanzes, in Deutschland ist sie wenig bekannt: Das Dock 11 erinnert mit „Wegehen“ an das choreografische Erbe der früheren Ausdruckstänzerin Karin Waehner

Von Annett Jaensch

Eine Diagonale. Von hinten links nach vorne rechts. Mehr braucht es nicht für Bruno Genty, Annette Lopez Leal und Michael Gross, um ein intensives tänzerisches Miteinander zu entwickeln. Sie kommen immer wieder aus der Tiefe des Raums, drängen zu einem Fluchtpunkt im Nirgendwo. Die Sequenz stammt aus „L’Exode“ und taucht tief ein in die Bewegungswelt von Karin Waehner, die das Stück 1986 choreografiert hatte. Karin Waehner ist eng mit einem großen Namen der Tanzgeschichte verbunden: Sie war Schülerin von Mary Wigman, der Grande Dame des Ausdruckstanzes, deren Ära ein knappes Jahrhundert zurückliegt.

Was bedeutet das Tanzerbe heute, welche Verflechtungen gibt es mit der Gegenwart? Der Blick in die Geschichte steht in der zeitgenössischen Szene schon länger hoch im Kurs, nach der Devise: Künstlerische Ahnenforschung stiftet Identität. Den Boom hat vor allem der Tanzfonds Erbe ermöglicht, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes. Insgesamt 2,5 Millionen Euro sind von 2011 bis 2018 in 60 Projekte geflossen. Eines davon ist „Eigensinnig in Zwischenräumen“ und Karin Waehner gewidmet.

Durch ihre Vita ziehen sich – wie durch viele Künstlerbiografien des letzten Jahrhunderts – Wege der Emigration. 1926 in Gleiwitz im heutigen Polen geboren, gelangt die junge Waehner 1945 zuerst nach Dresden und dann nach Leipzig, wo sie in der Privatschule von Mary Wigman ihr Tanzdiplom macht. Nach einer Station in Buenos Aires lässt sie sich, dem Rat von Marcel Marceau folgend, 1953 in Paris nieder. Sechs Jahre später gründet sie die Kompanie „Les ballets contemporains Karin Waehner“. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1999 wird sie als Choreografin und Pädagogin wichtige Mosaiksteine der französischen Tanzlandschaft mitbewegt haben.

Heide Lazarus, Tanzwissenschaftlerin und Initiatorin des Projekts, ist tief in das Leben und Wirken der Wigman-Schülerin Waehner eingestiegen. „Damals hatte der zeitgenössische Tanz noch nicht das Standing von heute“, betont Lazarus. „Karin Waehner war insofern eigensinnig, weil sie immer versucht hat, ihren Platz zu finden.“ Die Performance „Wegehen“, eine Zusammenschmelzung aus Wege und gehen, will nun Erinnerungsfäden aufnehmen und weiterspinnen.

Reibung und Energie zieht der Abend vor allem aus der Begegnung der Generationen. Während Jean Masse und Bruno Genty ihre Expertise als ehemalige Tänzer und Weggefährten von Karin Waehner einbringen, gehören Annette Lopez Leal und Michael Gross einer jüngeren Riege an. Sie wollen Waehners Stücke wieder zum Atmen bringen, ohne eine Kopie zu schaffen.

„Celui sans nom“, ein Solo von Karin Waehner für Bruno Genty, war von ihm bereits im Jahr 2013 an Annette Lopez Leal weitergegeben worden. Leal wiederum, langjährige Tänzerin bei Rui Horta, führte Michael Gross an das Schrittmaterial heran. Was nun 2018 auf der Bühne als erweitertes Trio zu erleben ist, strahlt genau jene Prinzipien aus, die Karin Waehner in ihrer Arbeit so wichtig waren und heute selbstverständliches zeitgenössisches Handwerkszeug sind: Gehen, Gewichtsverlagerung, Bodenkontakt. Und vor allem: das Erkennenlassen der Tänzerpersönlichkeit.

Michael Gross, Jahrgang 1991, hat sich gern auf das Experiment eingelassen. Etwas Altbackenes und Dramatisches habe er erwartet, gibt er im Gespräch lachend zu. „Wenn man aber seinen Körper einbringt, verändert das die Emotionen.“

Karin Waehner hat immer wieder Zwischenräume für sich reklamiert, kulturell wie ästhetisch. Wer mehr über sie erfahren möchte, wird im Dokumentarfilm „Karin Waehner – L’Empreinte du sensible“ (2002) fündig. Er streift mit Interviews und alten Originalaufnahmen durch ihr Leben. Wie sie Ende der 1950er Jahre die stilprägenden Arbeiten von Martha Graham bis José Limón für sich entdeckt, wie ihre Arbeit als Tanzpädagogin die französischen Sporthochschulen erreicht und wie sie sich in späteren Jahren wieder intensiver mit ihren expressionistischen Wigman-Wurzeln befasst.

Das Dock 11 rahmt die Annäherung an Karin Waehner mit Podiumsdiskussionen und Vorträgen. Parallel dazu rückt das gtf-Workshop-Festival zu transnationalen Konzepten im modernen Tanz weitere „Brückenbauerinnen“, wie Rosalia Chladek, Sigurd Leeder, Erika Klütz und Marianne Vogelsang, in den Fokus. Ein Blick zurück mit viel Stoff für die Gegenwart.

„Wegehen“, 14.-17. März, 19 Uhr, Dock 11

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen