: Im Trüblicht der Städte
Alize Zandwijk setzt Hauptmanns „Die Ratten“ in eine ramponierte Puppenstube, gehüllt in nagende Klänge und fieses Licht. Gegenwärtig ist das, gerade weil es keine Aktualität behauptet
Von Benno Schirrmeister
Quietschend, als riebe Styropor an Styropor, raschelnd und nagend: So beginnt es. Vorn links erzeugt, in einem Meer von Umzugskartons, Beppe Costa Sounds des Unbehagens ins Mikrofon hinein. Beengt, fast gequetscht hockt er da zwischen erster Sitzreihe des Goethetheaters und dem Mehretagenhaus, das Thomas Rupert in voller Höhe auf der Bühne errichtet hat: Aufgeschnitten wie eine riesige verlotterte Puppenstube, trüb erhellt von kalten Neonröhren, der Putz hängt in großen Fladen und keine Ebene ist gerade. Durch diese Mietskaserne bewegen sich, inszeniert von Alize Zandwijk, die 14 Personen plus zwei Säuglinge von Gerhart Hauptmanns Stück „Die Ratten“.
Dessen Schauplatz: eine Berliner Mietskaserne. In der durchkreuzen sich die Dramen so, wie sich die Nachbarn im Treppenhaus begegnen: Da ist der von Guido Gallmann ganz schön schmierlappig gespielte Schauspieldirektor Harro Hassenreuter, der, in Straßburg abgelöst, in Berlin gestrandet ist, wo er am Hofe antichambriert, um wieder auf seinen Posten in der „deutschen Kulturarbeit an der westlichen Grenze“ zurückkehren zu können. Seine Frau, von Verena Reichardt als exaltierte Nervensäge interpretiert, betrügt er ganz selbstverständlich. Und da ist der Handlungsstrang von Pauline Piperkarcka, einer polnischen Arbeitsmigrantin, die von einem Instrumentenmacher erst geschwängert, dann verlassen wurde.
Das Baby kauft ihr Henriette John ab – und als die junge Mutter das Neugeborene wiederhaben will, hetzt Nadine Geyersbach ihr ihren kleinen Bruder auf den Hals, Bruno Mechelke, den sie großgezogen hat. Kleiner Casting-Joke: Gespielt wird der von Denis Geyersbach, der genauso wie Nadine in Erfurt geboren wurde, nur ein paar Jahre jünger ist. Zwischendurch tritt Reichardt noch als vom Alkohol gezeichnete Witwe Knobbe in Erscheinung, die ihre völlig überforderte Tochter Selma, schön verhuscht von Susanne Schrader gespielt, mit den vielen nach dem Tod ihres Gemahls geborenen Geschwisterchen allein lässt. Das jüngste stirbt.
Es gibt halt auch kurze Geschichten.
Den Wunsch, Berlin „wenigstens in einem Werk einmal den Spiegel vor(zu)halten“, hatte Hauptmann 1909 im Tagebuch notiert. „Sie muss sich so sehen, wie ich sie sehe: erfüllt von Dämonen, ein Inferno.“ Dafür ist Mietskaserne nur ein anderer Ausdruck: Im selben Jahr, als Hauptmann das Stück schreibt, unterzieht die „Allgemeine Bauaustellung“, die erstmals das Thema Stadtplanung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht, die Entwicklung Berlins in den vorangegangenen Jahrzehnten einer vernichtenden Kritik. Denn die hatte darin bestanden, die „Herrschaft der Mietskasernen“ voranzutreiben, wie es im Katalog heißt. Der Architekturkritiker Werner Hegemann nennt sie „Behausungen, wie sie sich weder der dümmste Teufel noch der fleißigste Berliner Geheimrat oder Bodenspekulant übler auszudenken vermochte“. Und Sozialökonom Gustav von Schmoller warnt, dass „Epidemien“ und „soziale Revolutionen“ unabwendbar wären, „wenn wir nicht aufhören, die untersten Klassen in unseren Großstädten durch ihre Wohnungsverhältnisse zu Barbaren, zu tierischem Dasein herabzudrücken“ – drängende, datierbare Zeitkritik, die sich in Gerhart Hauptmanns Werk zugleich aufbewahrt findet, aber in dieser Inszenierung als atmosphärisch überraschend übertragbar, ja heutig erweist.
Eine „Berliner Tragikomödie“ hatte der Autor das Stück genannt, und Komik – ja doch, tatsächlich gibt es im Text ein paar fiese Pointen, die im Goetheplatz auch böse zünden. Aber insgesamt hüllt eher Tristesse diese heterogene Wohngemeinschaft ein – und das heißt eben nicht Tragik, denn selbst wenn bedrohlich schweigend und beeindruckend unheimlich Martin Baum als Hausmeister Quaquardo ständig durch die schmalen Stiegen steigt, als wäre er das Verhängnis persönlich, ist hier nirgends Schicksal zu erkennen. Im Gegenteil: Alle, wirklich alle Personen des Stücks hätten eine Perspektive zu entrinnen, auch wenn die für die meisten Suizid heißt. Und auch wenn nur die mitunter geradezu gespenstische Nadine Geyersbach als Henriette John sie wählt: Sie lässt sich von der Straßenbahn überfahren, in der Pose der Gekreuzigten.
Diese synkretistische private Mater-Dolorosa-Demeter-Natur-Mythologie ist eher Art nouveau als Naturalismus und eher schwülstig als genialisch, auch wenn Hauptmann sie für einen ganz verwegenen Einfall gehalten haben mag: Längst ist der zu einem problematischen Autor geworden, auch weil seine literarische Großtat der geradezu virtuosen Verschriftlichung sozialer und regionaler Varietäten der gesprochenen Sprache auf der Bühne nicht mehr so recht knallt. Dialekt, Rotwelschspielarten, Unterweltsprache aus der Zeit um 1900 lassen sich kaum noch glaubwürdig oder auch nur verständlich sprechen.
Klug ist daher der pragmatische Umgang der Spielfassung (Dramaturgie: Viktorie Knotková) mit diesem Hauptmann-Sound: Zwar, Alexander Swoboda darf als Maurerpolier Paul John und überstolzer vermeintlicher Vater etwas Jargon parlieren, aber Swoboda kannet ehmt ooch. Das vom Autor sehr gewissenhaft notierte Migrantisch der Piperkarcka spricht Gina Haller überzeugend verzweifelt. Die anderen müssen aber, Dramaturgie und Regie sei Dank, nicht textbuchtreu altberlinern, ohne dass dabei die Sprechweisen nivelliert würden: Das ist eine fantastische Ensemblearbeit.
Denn das, die Gleichzeitigkeit des Ungleichen, die soziale Vielfalt im Bühnenhaus, macht dieses berückend lebendig: ein Haus der Liebe und des Todes, in dem es um den Sinn des Theaters geht, um Kinderraub, das Reich, den sozialen Aufstieg, den sozialen Abstieg, ungewollte Schwangerschaft, unerfüllten Kinderwunsch, Hygiene und zerbrechende Familien, Wanderarbeit, Stadtplanung und irgendwie um alles. Nichts davon behauptet die Goetheplatz-Produktion als aktuell. Alles macht sie gegenwärtig. Das ist wirklich bewegendes Theater.
So, 25. 3., 18 Uhr, Theater Bremen; weitere Termine: 10., 14. und 18. 4., 19.30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen