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Helke Ellersiek BalkongesprächeDas Deutsche Rote Haken-Kreuz als Kronzeuge

Foto: Hanna Sander

Meine Nachbarin sagt, das mit den Opfern des Zweiten Weltkriegs, das könne ja so nicht stimmen. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, worauf sie hinauswill: Opfer des Zweiten Weltkrieges – weltweit? Meine Nachbarin trinkt einen Schluck Wein und sagt: „Sechs Millionen Tote, das kann ja nicht sein. Wo sollen die denn alle hin? Das müssten ja riesige Berge von Leichen sein.“

Jetzt verstand ich. Es hatte so harmlos an­gefangen: Ich war gerade von Köln in meine neue Wohnung im Leipziger Osten gezogen, bat meine Nachbarin um ihr WLAN-Passwort. Jetzt stand sie auf meinem Balkon und leugnete den Holocaust. Die erste Begegnung mit einer sächsischen Ein­geborenen und gleich das erste Klischee übertroffen.

„Selbst wenn sie eingeäschert wurden“, sagt sie auf meinen Einwand. „Irgendwo muss die Asche ja sein.“ Sie sage ja nicht, dass nicht viele „gestorben“ seien. „Aber das Rote Kreuz hat nach dem Krieg auch gesagt, dass es keinen Massenmord gegeben hat.“ Noch verwirrt über die steile Asche-These erwiderte ich nur, dass insbesondere das Deutsche Rote Kreuz wohl ein Interesse gehabt haben wird, die Verbrechen, gegen die es nichts getan hat, so klein wie möglich zu reden.

Bei der Suche nach Quellen bestätigte sich genau das: In einem dreibändigen Bericht hat das Internationale Rote Kreuz 1947 seine Rolle in der Nazizeit erklärt, oder sagen wir besser: schöngelogen. Im Internet finden sich haufenweise rechte Blogs, die diesen Bericht als Kronzeugen für eine angebliche Holocaustlüge anführen. Einer schlussfolgert: „Das vollständige Schweigen über das Thema einer geplanten Vernichtung, ist eine klare Widerlegung der 6-Millionen-Legende.“

Der 2010 verstorbene Kölner Journalist Heiner Liechtenstein hat über die unrühmliche Rolle der Organisation ein Buch geschrieben: Es trägt den Titel „Angepasst und treu ergeben – das Rote Kreuz im Dritten Reich“. Ich habe es mir bestellt. Es ist kein erfreulicher Anlass, gleich nach der Ankunft in der neuen Heimat ein Buch aus der alten zu lesen.

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