berliner szenen: Leider immer das, was man nicht mag
Wenn ich manchmal so glückselig restverkatert bin, mache ich gern einen ausgiebigen Spaziergang. Ich schreite weit aus, ohne die Leute um mich herum zu beachten, und singe dabei selbstvergessen vor mich hin. Ich zirpe italienische Gassenhauer aus meiner Zeit bei der legendären Gesangsformation S-Bahndati, voller Fantasie- und Füllsilben, da ich die Texte allesamt vergessen habe, weil ich ja eigentlich gar kein Italienisch kann. Oder ich brumme in einem fort monton „Domo arigato, Mr. Roboto“. Sonst nichts.
Manchmal falle ich aus meiner Trance und bemerke: Die Entgegenkommenden gucken komisch. Sie halten mich für irre und fühlen sich sichtlich unwohl.
Das tut mir dann fast leid. Ich will gar nicht, dass die Leute vor mir Angst haben. Sie wissen ja nicht, dass ich im Grunde nur ein riesiges graues Meerschweinchen mit Brille bin, das harmlos durch die Gegend schnuffelt. Das steht schließlich nicht an mir dran, und man vergisst eben so schnell oder kann von vorneherein gar nicht beurteilen, wie man auf andere wirkt. Speziell in diesem Zustand. Wäre ich nicht quasi bereits in mir drin und es deshalb allein schon logistisch unmöglich, würde ich bei meinem Anblick in Kombination mit dem Gesang bestimmt auch selbst die Straßenseite wechseln.
Früher war das anders. Als junger Mann hätte ich es ganz gern gehabt, wenn die Leute etwas mehr Angst vor mir gehabt hätten. Denn ich verwechselte Furcht mit Respekt und rühmte mich meiner Schlechtigkeit. Doch damals sahen alle nur ein dünnes dunkelblondes Meerschweinchen ohne Brille. Alle lachten. Keiner schrie, rannte weg oder guckte wenigstens komisch.
Heute jedoch, da ich längst nicht mehr so schlecht bin, wünschte ich mir für mich genau diese Ausstrahlung. Aber leider bekommt man immer das, was man gerade nicht möchte, und umgekehrt. Uli Hannemann
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