: Stichwahl verkommt zur Farce
AFGHANISTAN Herausforderer Abdullah zieht sich zurück. Ob der zweite Wahlgang für das Präsidentenamt trotzdem stattfindet, ist offen, denn in der Verfassung ist dieser Fall nicht geregelt
AUS KABUL SIMONE WAGNER
Der afghanische Präsidentschaftskandidat Abdullah Abdullah hat sechs Tage vor der Stichwahl seinen Rückzug erklärt. In einer Rede vor tausenden Anhängern in Kabul warf er der Wahlkommission erneut Parteilichkeit und der Regierung Machtmissbrauch vor. Eine „freie und faire Wahl“ sei unter diesen Umständen nicht möglich.
„Ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht“, sagte Abdullah mit gebrochener Stimme und mit Tränen in den Augen. Er habe die Entscheidung aber „im Interesse der Nation“ gefällt. Abdullah erklärte, dass er starke Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses habe. Zuvor hatte der Politiker die Regierung ultimativ aufgefordert, bis Samstag den umstrittenen Leiter der afghanischen Wahlkommission, Asisullah Ludin, abzusetzen und drei Minister von ihren Ämtern zu suspendieren. Präsident Hamid Karsai hatte dies jedoch abgelehnt.
Amtsinhaber Karsai ließ nach der Absage umgehend verlauten, die Stichwahl werde dennoch stattfinden. „Dies ist eine persönliche Entscheidung, die den Prozess nicht beeinflussen sollte“, sagte der Sprecher von Karsais Wahlkampfteam, Wahid Omar.
Der Leiter der Wahlkommission, Ludin, sagte, er werde sich mit Verfassungsrichtern abstimmen, bevor er entscheide, ob der zweite Wahlgang auch ohne Abdullah durchgeführt werden könne. Nach Aussagen von Diplomaten gebe es in der afghanischen Verfassung keine klare Regelung für den Fall, dass einer der Kandidaten nicht an der Stichwahl teilnimmt. „In einem solchen Fall wird der Oberste Gerichtshof eine Entscheidung treffen müssen“, sagte ein Diplomat.
In Kabul gibt es nun Befürchtungen, dass der Rückzug Abdullahs die Legitimität des von Betrug und Gewalt überschatteten Wahlprozesses weiter schwächen könnte. Die Schwäche der bisherigen Regierung gilt als einer der wichtigsten Gründe für das Wiedererstarken der Taliban. Die anhaltende Unsicherheit über den Ausgang der politischen Krise dürfte auch die Entscheidung von US-Präsident Barack Obama verzögern, die Entsendung weiterer Truppen zu veranlassen.
Der ehemalige afghanische Außenminister Abdullah unterstrich bei einer späteren Pressekonferenz, dass er nicht zu einem Boykott der Wahlen aufrufe. Außerdem rief er seine Unterstützer dazu auf, von Demonstrationen abzusehen, um mögliche gewaltsame Ausschreitungen zu vermeiden.
Seine Entscheidung sei „endgültig“, sagte Abdullah. Er lasse jedoch für weitere Gespräche mit Karsai „die Tür offen“. Einige Beobachter in Kabul werteten dies als Möglichkeit, dass vor der Wahl am Samstag doch noch ein Kompromiss zwischen den beiden Kontrahenten erzielt werden könnte. In den vergangenen Tagen hatte es zahlreiche Vermittlungsversuche vonseiten der internationalen Gemeinschaft gegeben.
Der Sondergesandte der Vereinten Nationen in Afghanistan, Kai Eide, teilte mit, es gehe nun darum, „diesen Wahlprozess auf eine rechtliche und zeitlich angemessene Weise zu Ende zu bringen“. US-Außenministerin Hillary Clinton hatte vor Abdullahs Auftritt erklärt, ein möglicher Rückzug werde die Legitimität der Wahl nicht gefährden.
Ein Mitglied von Abdullahs Wahlkampfteam, Nadschib Jussufi, warnte Amtsinhaber Hamid Karsai davor, sich ohne Wahl zum Sieger küren zu lassen. In diesem Fall werde er keine Legitimität haben. Stattdessen solle er eine traditionelle Ratsversammlung, die sogenannte Loja Dschirga, einberufen, die einen Weg aus der Krise finden soll.
Der erste Wahlgang am 20. August war von massiven Wahlfälschungen und Gewalt überschattet gewesen. Nachdem die Beschwerdekommission nach wochenlangen Untersuchungen rund eine Million Stimmen für ungültig erklärt hatte, war der Stimmanteil Karsais unter die nötige Mehrheit von 50 Prozent und einer Stimme gesunken. Auf internationalen Druck hin hatte Karsai einer Stichwahl zugestimmt. Angesichts der anhaltend schlechten Sicherheitslage und fehlender Kontrollmechanismen gegen Wahlfälschung hatten viele Diplomaten jedoch auf eine Koalitionsregierung gedrängt.