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Archiv-Artikel

„Schnellschüsse helfen nicht weiter“

Seit dem Mord an dem siebenjährigen Christian S. wird wieder über die Einführung von geschlossenen Heimen für kriminelle Kinder und Jugendliche debattiert. Brauchen wir nicht, sagt Justizstaatssekretär Christoph Flügge (SPD)

taz: Herr Flügge, die CDU und Teile der Medien haben die These aufgestellt, der siebenjährige Christian S. würde noch leben, wenn der Haftrichter anders entschieden hätte. Teilen Sie diese Auffassung?

Christoph Flügge: Das ist eine sehr verkürzte Sichtweise. Da schwingt viel Populismus mit. Die Justiz ist immer das letzte Glied in der Kette.

Kennen Sie die Akte des 16-jährigen Tatverdächtigen?

Es gibt viele Akten. Eine Akte des Jugendamtes, eine Schulakte, eine Akte der Jugendarrestanstalt, eine Akte der Staatsanwaltschaft, eine Akte der Polizei. Genau das ist das Problem. Wir haben in den vergangenen Jahren viel getan, um diese Stellen zum Wohle der Kinder und Jugendlichen und der Gesellschaft untereinander zu vernetzen. Diesen Weg müssen wir weitergehen und Verbesserungsmöglichkeiten prüfen.

Das klingt so, als ob auch in Zukunft niemand haftbar gemacht werden kann.

Es geht nicht ums Haftbarmachen. Die staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionsmöglichkeiten müssen verbessert werden. Das heißt in erster Linie: Information und Kooperation. Polizei und Justiz haben da schon sehr viel gemacht. Seit zwei Jahren gibt es eine eigene Abteilung der Staatsanwaltschaft für Intensivtäter. Früher haben die Senatsressorts Inneres und Justiz, Jugend und Schule oft gegeneinander gearbeitet. Aber der Austausch muss noch besser werden.

Was bedeutet das für den konkreten Fall?

Dass wir die Biografie des Jugendlichen gemeinsam aufarbeiten. Was ist bei ihm schief gelaufen? Wer hat möglicherweise wann und wo nicht adäquat reagiert? Ein Beispiel: War es richtig, den Jugendlichen bei seinen Großeltern zu belassen, oder hätte er unter Einschaltung des Vormundschaftsgerichts aus der Familie genommen werden müssen? So eine Analyse ist nicht in drei Tagen möglich.

Die CDU fordert eine Verschärfung des Jugendstrafrechts.

Ich verstehe, dass die Öffentlichkeit aufgewühlt ist. Aber Schnellschüsse helfen überhaupt nicht weiter. Solchen voreiligen Initiativen nachzugeben, die in sich zudem völlig widersprüchlich sind, wäre eine verantwortungslose Kriminalpolitik.

Was meinen Sie mit widersprüchlich?

Einerseits wird von der CDU gefordert, die Jugendstrafe nie mehr zur Bewährung auszusetzen. Gleichzeitig soll neben der Bewährung – die man doch abschaffen will – der Warnschussarrest eingeführt werden.

Noch ein Wort zur geschlossenen Unterbringung von kriminellen Kindern und Jugendlichen, wie sie von CDU sowie von Teilen der Medien gefordert wird. Sind die vorhandenen Möglichkeiten ausreichend?

Wer diese Forderung erhebt, kennt die Rechtslage nicht. Auch für Kinder gibt es schon jetzt die Möglichkeit einer Unterbringung. In Brandenburg, genauer: in der Uckermark, existieren längst solche Heime. Die Vormundschaftsgerichte machen von dieser Einrichtung gelegentlich Gebrauch. Für Jugendliche gibt es eine Einrichtung in Frostenwalde. Bei beiden handelt es sich um verbindliche Wohnformen weit draußen auf dem Lande. Weglaufen bringt dort nichts, weil es keine Verkehrsanbindung gibt. Das funktioniert viel besser als Gitter vor den Fenstern.

INTERVIEW: PLUTONIA PLARRE