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Archiv-Artikel

Drei Bärte sind zwei zu viel

Alle drei waren im Neuen Forum. „Werner Schulz und ich“, sagt Thierse, „sind, so muss man das wohl nennen, befreundet“

AUS BERLIN HEIKE HAARHOFF

Werner Schulz redet seit geraumer Zeit. Die Stimmung sei schlechter als die Lage. Im Saal beginnt unwilliges Gemurmel, es wird lauter. Die Leute tragen beige Popelinjacken, die jüngeren Spaghettiträgertops, sie haben ihre Arbeit verloren oder Angst. Sie wollen keinen Stimmungsbericht hören, sondern wissen, welche konkreten Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der Grüne Werner Schulz, 55, und die anderen Direktkandidaten für den Ostberliner Wahlkreis Pankow haben. Der Moderator greift nicht ein. Da stupst der Tischnachbar von rechts Werner Schulz an, Günter Nooke heißt der Mann, er ist 46 und der Direktkandidat der CDU.

Nooke: „Werner, die drei Dinge, die du machen willst, sollst du beantworten.“

Schulz: „Nee, das war die Frage ans CDU-Programm.“

Nooke: „Du wolltest die Frage auch haben.“

Schulz: „Ich …?“

Nooke: „Ach komm.“

Die Männer grinsen sich an, ihre Köpfe wackeln ein bisschen dabei, beide tragen Bärte, die sie älter machen, als sie sind. Aber das hier ist nicht die Kritikerloge der Muppets, das hier ist Wahlkampf im Berliner Bezirk Pankow, einem bemerkenswerten Wahlkreis. An wenigen Orten Deutschlands hat sich demografischer, kultureller und ökonomischer Wandel seit der Wende so radikal vollzogen wie hier. An wenigen Orten ist der Wahlausgang so offen und geht es für die Kandidaten um so viel, bei Schulz und Nooke hängt das politische Überleben davon ab. Denn ihre Parteien, die Bündnisgrünen und die CDU, haben sie „durchgereicht“, wie es im Politikerdeutsch heißt. Es bedeutet: Sie haben sie nicht über Plätze auf der Landesliste abgesichert, um ihren Wiedereinzug in den Bundestag zu garantieren. Schulz mit seiner Illusion, innerparteiliche Kritik an Joschka Fischer bleibe folgenlos, Nooke mit seiner Unterschätzung von Kungelrunden in der von Westberlinern dominierten Hauptstadt-CDU – am Ende wurden sie beide weggemobbt, ihr ostdeutscher Minderheitenstatus hin oder her. Ihre einzige Chance ist jetzt das Direktmandat. Nur einer kann es gewinnen, einer von insgesamt fünf Direktkandidaten. Die FDP-Kandidatin spielt keine Rolle, aber die Linkspartei hat in Pankow eine treue Stammwählerschaft und mit dem Berliner Landeschef Stefan Liebich, 32, einen ernst zu nehmenden Kandidaten. Für die SPD tritt Wolfgang Thierse an, 61 Jahre alt, Bundestagspräsident, die wandelnde politische Moral, Gewinner des Wahlkreises bei der letzten Bundestagswahl. Ein schwer zu schlagender Gegner – und ein guter Bekannter von Schulz und Nooke aus den Wendetagen.

Alle drei waren im Neuen Forum und später Abgeordnete der ersten frei gewählten Volkskammer. Schulz und Nooke, zu DDR-Zeiten Oppositionelle, waren damals sogar in derselben Partei, im Bündnis 90. Wolfgang Thierse, der die DDR in einer Nische des Zentralinstituts für Literaturgeschichte überwintert hatte, war Abgeordneter der SPD – mit großer Sympathie für das Bündnis 90. „Werner Schulz und ich“, sagt Thierse heute, „sind, so muss man das wohl nennen, befreundet.“

Jetzt sind sie Konkurrenten, nehmen sich gegenseitig Stimmen weg und verhelfen damit, das jedenfalls ist ihre große gemeinsame Befürchtung, der Linkspartei möglicherweise zum Sieg. Die Frage ist, wie jeder damit umgeht.

U- Bahnhof Eberswalder Straße, Prenzlauer Berg, ein Werktag, neun Uhr morgens. Seit zwei Stunden verteilt Werner Schulz Postkarten mit seinen Wahlkampfterminen, der Baustellenlärm von nebenan ist ohrenbetäubend, die Leute, viele Westdeutsche, viele Akademiker, viele mit Kleinkindern im Fahrradsitz und sanierter Altbauwohnung im Eigentum, gehen weiter. Werner Schulz hat in der DDR der 80er-Jahre seine Freiheit riskiert, weil er als Oppositioneller in kirchlichen Friedensgruppen die Demokratie-, Menschenrechts- und Umweltschutzdefizite der DDR kritisierte, seine wissenschaftliche Karriere an der Humboldt-Universität wurde beendet, als er der SED-Propaganda widersprach, die die sowjetische Invasion in Afghanistan als gerechtfertigte Niederschlagung der Konterrevolution gelobt hatte. Die Zeiten sind schnelllebig. Wenn ihn heute Passanten zufällig erkennen, dann deshalb, weil er vor ein paar Wochen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Auflösung des Bundestags geklagt hat.

Er packt seine Sachen. „Wo gehen wir hin?“, fragt er seine Wahlhelfer, Studenten zwischen 20 und 30, die sich auskennen im Kiez. Als Schulz noch selbst in Prenzlauer Berg wohnte, von 1968 bis 1980, bis er seinen Kindern zuliebe in die Nähe des Pankower Schlossparks zog, „da war alles grau, die Hinterhöfe trist“. In einem Café in der quirligen Kastanienallee sagt er: „Das mit dem Günter Nooke, das war schon ein Riss.“ Es klingt nicht vorwurfsvoll, sondern bedauernd. Deutschland war wiedervereint, Oppositionelle hießen nun Bürgerrechtler, und Schulz trieb den Zusammenschluss vom ostdeutschen Bündnis 90 mit den West-Grünen voran. Nooke mochte diesen Schritt nicht mitgehen.

Umweltschutz, Nachhaltigkeit, damit konnte der Physiker Nooke etwas anfangen. Aber mit Multikulti? Mit der K-Gruppen-Lastigkeit vieler westdeutscher Grüner? Er wechselte zur CDU, es war ein spektakulärer Schritt 1996, heute dankt es ihm niemand in der Partei. „Heute“, sagt Günter Nooke in einer bierdunstigen Gaststätte, „heute ist das scheißegal, das mit dem Bürgerrechtler, das interessiert vielleicht noch im Westen, aber hier ist Osten, hier müssen Sie Stimmung erzeugen können.“ Stimmung erzeugen. Er gibt sich redlich Mühe. Nuschelt sich durch seine DDR-Vergangenheit und wettert sodann los, in Pankow gegen den EU-Beitritt der Türkei vor einem Grüppchen Rentner, die stolz darauf sind, dass in den Schulklassen ihrer Enkel die Muttersprache mehrheitlich Deutsch ist. Vor Autohändlern und Mittelständlern spult er das Lohnnebenkosten-senken-gleich-Arbeitsplätze-schaffen-Programm der CDU ab. Verbalattacken gegen die SPD? Spitzen gegen die Grünen? Falls doch, dann nicht auf Kosten seiner Konkurrenten Thierse und Schulz. „Ich will an das PDS-Wählerpotenzial ran“, sagt Nooke und schaut weg.

Vielleicht wäre der Wahlkampf einfacher zu führen, wenn die Gegner wirkliche Feinde wären. Es wurmt sie alle, dass im nächsten Bundestag kaum noch Abgeordnete mit DDR-Biografie vertreten sein werden, die dem Regime kritisch gegenüberstanden. „Aber ist das vielleicht meine Schuld?“ Die Frage klingt scharf durch den Raum. Es ist ein Vormittag in Prenzlauer Berg, und Thierse gibt einen kleinen Empfang für Journalisten, das Gespräch plätschert so vor sich hin, ein bisschen Stadtteil, ein bisschen Stasi, ein bisschen SPD, nichts kann den Mann aus der Ruhe bringen, auf alles weiß er eine ironische Erwiderung, dies und jenes erscheint ihm „geschmäcklerisch“. Jetzt aber geht es um die Konstellation der Direktkandidaten, und vorbei ist es mit der Gleichmut. Hört die Vergangenheit denn nie auf, ihn zu verfolgen? „40 Jahre“, sagt Thierse, „hat die SED mein Leben bestimmt.“ Er hat darunter gelitten, andere auch, und wenn diese anderen sich nun entschließen, auch Politik machen zu wollen, dann sollen sie das tun, wo immer sie wollen, er hat sie nicht darum gebeten, es ausgerechnet in seinem Revier zu tun, denn als das empfindet er den Bezirk Pankow: „Ich wohne hier schon seit über 30 Jahren.“

Thierse ist der Einzige, der sich keine Sorgen um seine Zukunft als Abgeordneter machen muss, die SPD hat ihn über den ersten Landeslistenplatz abgesichert. Aber darum, sagt Thierse, gehe es doch nicht. Er könnte auch sagen: Darum geht es mir nicht. Denn wer in der SPD an entscheidender Stelle mitmischen will, der muss der eigenen Partei beweisen, dass er seinen Wahlkreis gewinnen kann. Und deswegen, sagt Thierse, könne er unmöglich seine Wähler dazu aufrufen, die Erststimme lieber Werner Schulz zu geben, so wie der es umgekehrt vor drei Jahren im Wahlkampf für seinen Freund Thierse getan hat. Er immerhin ist Bundestagspräsident! Entsprechend gibt er sich: Ruft den Menschen im Altersheim von Pankow mehr zu als sie zu bitten, sie möchten doch Verständnis haben, dass er die Fragerunde abkürzen muss – „mein nächster Termin!“ Viele Einladungen nimmt er nicht an, Thierse, der Promi, ist mitten im Wahlkampf ausgebucht für seine Wähler, manchmal erscheint er gar nicht bei Veranstaltungen, dann schickt er einen Vertreter, beispielsweise den Kandidaten aus einem anderen Bezirk, und wenn er doch persönlich kommt, muss er häufig früher gehen.

Alles an ihm signalisiert: Er spielt jetzt in einer anderen politischen Liga.

Nur manchmal, da holt ihn die Vergangenheit doch ein. Bei einer Podiumsdiskussion mit allen Direktkandidaten vor Gymnasiasten sorgt Günter Nooke für Lacher, als er erwähnt, dass er in der DDR zunächst Maurer lernen musste und später erst Physik studieren durfte. „Wie blöd muss man sein, um sich so was bieten zu lassen“, raunt ein Schüler in den hinteren Reihen. Thierse hat den Satz nicht gehört, aber er hat ein Gespür für Situationen, und lustig machen, das soll sich hier bitte niemand über einen anderen. „Wir mit unseren DDR-Biografien“, sagt Thierse schnell, „sind uns in diesem Punkt ja alle sehr ähnlich, ich habe vor dem Studium auch erst Schriftsetzer gelernt.“ Es ist ein Satz, der untergeht im Gemurmel der amüsierten Schüler, aber auf dem Podium wirkt er wie ein Geheimcode. Er dauert nur einen Augenblick, drei Männer mit Bärten zwinkern sich zu.