: Gemeinnützige Diktatur
In China siegt der Kapitalismus, und die Despotie verschwindet allmählich. Nur deshalb spielt der urbane Mittelstand mit. Frank Sieren ist von dieser Entwicklung schwer beeindruckt
VON ROBERT MISIK
Fährt man den Changan, Pekings Prachtboulevard, nach Osten und biegt dann ab von den breiten Schneisen, an denen stalinistischer Pomp und kapitalistische Glitzerkommerzarchitektur längst eine stabile Symbiose eingegangen sind, gelangt man in ein Viertel, in dem sich jede Menge Lokale Konkurrenz machen.
In einem Straßenzug liegt etwa eine Disco für die Jüngeren, eine schmucklose, von Uiguren geführte Bar mit reichem Whiskyvorrat – und ein einstöckiges Haus, das ein ziemlich cooles zweistöckiges Café beherbergt. Wie das geht? Das Flachdach ist der zweite Stock. Und genau hier kann man gelegentlich Frank Sieren treffen, einen 37-jährigen Deutschen, wie er einen Cocktail schlürft, der eine recht ungesunde Farbe aufweist. Anfang der Neunzigerjahre hat er sich in diversen intellektuellen Kulturen und Subkulturen zwischen Trier und Berlin herumgetrieben. Seit elf Jahren lebt er in China als Korrespondent der Wirtschaftswoche.
Deswegen ist sein Buch „Der China Code. Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert“ auch nicht bloß ein Fachbuch über ein dynamisches Wirtschaftsreich, das die westlichen Wohlfahrtsökonomien alt aussehen lässt, sondern es ist auch eine Studie über lange Dauer, tief liegende historische Tendenzen, über Prozesse der Staatsbildung, Globalisierung und die Rolle der Mentalitäten in der Geschichte.
Frank Sieren ist ein Wirtschaftsjournalist, der für so etwas eine Ader hat. Das macht sein Buch extrem lesenswert. Er versteht sich so auf Soziologie, dass er sogar ausführlich Norbert Elias zitiert. Das ist interessant, aber hin und wieder auch ein bisschen anstrengend.
Sieren argumentiert zunächst empirisch. 1,3 Milliarden Menschen wollen nach oben, „und zwar alle gleichzeitig“. Der chinesische Boom – 9 Prozent Wachstum jedes Jahr – ist historisch einzigartig, selbst im Vergleich mit der Wachstumsphase der USA in den Zwanzigerjahren, die das Land zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt machten.
Der Weltmarkt wächst langsam, China wächst schnell. Auf anderen Märkten kann man Marktanteile millimeterweise erobern, auf Kosten von Konkurrenten, doch große neue Märkte gibt es nur im Reich der Mitte. Und das weiß um seine Monopolstellung. Es hat eine extrem anpassungsfähige, extrem pragmatische Elite entwickelt, die es längst versteht, diese Monopolstellung zu ihren Gunsten auszunützen. Wer mitspielen will in der ersten Liga, der muss nach China. Nur: Dessen Politmanagement diktiert die Bedingungen – Transfer von Reichtum, Transfer von Arbeitsplätzen, Transfer von Knowhow. „Der chinesische Kapitalismus hat eine der wirkungsvollsten Methoden hervorgebracht, mithilfe von fremdem Geld und Knowhow die eigene Position zu stärken.“
China ist eine alte Kultur, war schon einmal eine Weltmacht; eine Händlermacht; dann ist sie abgestiegen, zersplittert, am Ende in Chaos untergegangen; war ein unterlegenes Entwicklungsland. Das prägt, auf ambivalente Weise, bis heute: kommerzielles Geschick, tief sitzende Angst vor Aufruhr und Chaos, nationales Selbstbewusstsein, ein stabiles „Wir-Gefühl“, ein Nerv für westliche Arroganz. All das unterstützt den neuerlichen Aufstieg. China entwickelt sich, so Sieren, „nach 150 Jahren Krise in gewissem Sinne zu einer ‚gemeinnützigen Diktatur‘“.
Die Jungen schaffen sich ihren Freiraum. „Kaum noch etwas erinnert im chinesischen Alltag der Mittelschicht an das Leben unter einer totalitären Diktatur.“ Diese Mittelschicht zählt heute, vorsichtig geschätzt, 250 Millionen Menschen. Sie stellt das Machtmonopol der Elite nicht in Frage, solange die ihr Versprechen auf Mehrung des Wohlstandes hält, solange sie „gut regiert“. Und die Elite weiß, dass das Stillhalten der urbanen Mittelschichten auf der Voraussetzung beruht, dass sie ihre Seite dieses Vertrages erfüllt. Sie kann über die Wünsche der Leute nicht mehr hinweggehen. Demokratie ist das noch nicht. Despotie auch nicht mehr.
Sieren ist offenkundig beeindruckt und nachdenklich gestimmt. Nicht dass er die aufgeklärte Diktatur deshalb der Demokratie vorzieht, aber am Beispiel Chinas sei doch sichtbar, dass es so etwas wie zukunftsfähige Diktaturen und blockierte Demokratien geben kann. Wenn in China ein Problem erkannt und die wesentlichen Säulen der politischen Klasse von einer Lösung überzeugt sind – dann wird die Lösung umgesetzt. Deswegen etwa rollen in China keine benzinbetriebenen Mopeds, sondern nur Elektrofahrräder. Seine Bewunderung dafür kann Sieren nur schwer unterdrücken. Man kann fragen, wie stabil die „Bestechung der Mittelklasse“ ist, wenn es einmal nicht mehr steil bergauf geht. Aber leugnen kann man nicht, dass das chinesische Modell der Transformation dem sowjetischen gegenüber manche Vorteile hat.
Nicht vollends überzeugend ist hingegen Sierens Prognose des Abstiegs der europäischen Wohlfahrtsstaaten – und hier besonders Deutschlands. Gewiss ist die globalisierte Ökonomie kein Win-Win-Spiel, von dem alle profitieren, wie die neoliberalen Propheten unterstellen. Doch sie ist auch kein Nullsummenspiel, bei dem die einen notgedrungen das verlieren, was die anderen gewinnen. Aber dass Chinas Aufstieg das Leben aller hier berührt, haben wir spätestens im letzten Jahr erfahren: die Rohstoffpreise, Öl voran, explodierten nicht des Irakkriegs, sondern der sprunghaft ansteigenden chinesischen Nachfrage wegen. Und auch der Textilstreit der letzten Wochen zeigt, dass diese Märkte neu, das heißt zugunsten der Chinesen, aufgeteilt werden.
Zudem klingt Sierens Schlüsselthese, dass China die gesamte Welt verändern wird, etwas dramatisch und ein bisschen sehr nach Monokausalität, aber in einem ist ihm schwer zu widersprechen: Der Aufstieg Chinas wird zu echter Multipolarität führen. Und Multipolarität relativiert nicht nur die Position der heute hegemonialen Hypermacht, der USA, sondern die aller Staaten.
Frank Sieren: „Der China Code. Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert“. Econ, Berlin 2005, 431 Seiten, 19,95 Euro