: „Migrantinnen lassen sich nicht mehr alles gefallen“
MigrantInnen werden heute feindlicher betrachtet als früher, sagt Faruk Sen. Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) wünscht sich, dass Einwanderer zu Lokalpatrioten werden
INTERVIEW: ANNIKA JOERES UND NATALIE WIESMANN
taz: Herr Sen, vor 20 Jahren gründete sich das Zentrum für Türkeistudien. War es nicht Ihr Ziel, sich bis heute überflüssig zu machen?
Faruk Sen: Im Prinzip ja. Nach 20 Jahren, dachte ich, ist die Integration der türkischen Einwanderer hier vollendet. Aber wir haben heute größere Probleme als damals: Das Nebeneinander von Deutschen und türkischen Einwanderern, eine riesige Distanz gegenüber dem Islam, bei der Integration Europas wird die Rolle der Türkei wichtiger... Ich glaube, auch mit oder ohne mich wird das ZfT noch 20 bis 30 Jahre weiterforschen.
Der Migrant als unbekanntes Wesen, das erforscht werden muss?
Sie sind nicht unbekannte, sondern unangenehme Wesen. In den Köpfen der Deutschen sind sie Fremde geblieben. Am Anfang ging es noch mehr um die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei, um Selbstständigkeit von Einwanderern, um ihren Zugang zu Hochschulen. Heute geht es angesichts der schlechteren wirtschaftlichen Lage eher um Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut, oder auch die soziale Lage der türkischen Rentner. Als die kommunistischen Staaten zusammenbrachen, wurde der Islam als Feindbild hochgepuscht. Bis 1990 wurde er positiv aufgenommen.
Aber der Islam ist doch heute präsenter als früher. Es werden mehr Kopftücher getragen als vor 20 Jahren.
Ich weiß nicht, ob die Menschen wirklich religiöser geworden sind. Nach den Anschlägen von Mölln und Solingen [Anfang der 90er Jahre] haben türkische Migranten gemerkt, dass sie wegen ihrer Herkunft und ihres Aussehens nicht akzeptiert werden. Darauf kann man auf zweierlei Arten reagieren: Man distanziert sich von den Eigenschaften der ursprünglichen Kultur. Oder man bekennt sich deutlich zu seiner Herkunft. Letztere Option haben die meisten gewählt.
Sie ziehen sich in ihre Stadtteile zurück, leben häufig getrennt von den Deutschen.
Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe. Die durchschnittliche Rente eines türkischen Senioren liegt bei 572 Euro. Die Leidtragenden der Regression sind die unteren Schichten und Migranten. Wenn es der Wirtschaft besser geht, klappt die Integration für alle auch besser.
Dann bräuchte man also keine Integrations-, sondern nur noch Wirtschaftspolitik?
Ich glaube, dass die Migranten von einem allgemeinen Aufschwung profitieren werden. Sie brauchen aber mehr Förderung als andere.
Sehen Sie sich als Promoter der türkischen Migranten?
Ich sehe mich als objektiver Vermittler. Wir sind die einzige Institution, die sehr viel in diesem Bereich forscht. Wir beschränken uns nicht auf türkische Migranten, sondern untersuchen auch die Situation von anderen Minderheiten in Deutschland. Neben der Forschung sind auch unsere Modellprojekte wichtig. Was nützen wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn man sie nicht auch umsetzen kann.
Der Name ihres Instituts ist herkunftsorientiert und beschränkt sich auf türkische Migranten. Ist er noch zeitgemäß?
Der Name ist irreführend. Bei der Stiftungsgründung vor drei Jahren haben wir uns tatsächlich überlegt, unser Institut in „Zentrum für internationale Migration“ umzubenennen. Nur zwanzig Prozent unserer Arbeit beschäftigt sich mit der Türkei. Aber wenn man unter einem Namen schon einmal bekannt ist, tut man sich schwer, sich umzubenennen.
Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse sind nicht immer angenehm – wurden ihre Studien schon mal unterdrückt?
Der türkische Staat war nicht immer einverstanden mit unserer Arbeit. Wir hatten hier kurdische Wissenschaftler engagiert. Die Türkei will nicht anerkennen, dass sie ein multikultureller Staat ist. Auch haben wir schon Drohbriefe von rechter Seite erhalten, wenn wir zum Beispiel veröffentlicht haben, wie viel türkischstämmige Wohnungseigentümer oder Selbstständige es in Deutschland bereits gibt. Da kommt Neid auf, so nach dem Motto: Den Türken geht es gut, aber uns geht es schlecht.
Haben Sie auch schon Themen abgelehnt?
Ja. Wir werden zum Beispiel ständig mit Berichten über Muslime beauftragt. Da gibt es aber keine neuen Daten und Fakten, da haben wir alles schon erforscht. Wenn die Erkenntnisse keine Folgen haben, bringt das doch alles nichts.
Trotzdem macht der Islam großen Teilen der Bevölkerung Angst. Werden die Forschungsergebnisse nicht publik genug gemacht, zum Beispiel im Fernsehen?
Natürlich müssen unsere Ergebnisse über die Medien transportiert werden, unsere Berichte liest die normale Bevölkerung nicht. Aber ich finde die Printmedien wichtiger. Wenn die Fakten übers Fernsehen vermittelt werden, bleiben sie nicht in Erinnerung.
Wir haben seit dem Wahlsieg der CDU in NRW mit Armin Laschet zum ersten Mal einen Integrationsminister. Ein echter Fortschritt?
Ja, aber das kommt viel zu spät. Niemand wollte so ein Amt bisher einrichten: Die Entsendestaaten haben Migranten nur als Geldquelle gesehen und sie als Lobbyisten benutzt. Die Migranten waren lange unentschlossen, wollten nur für einige Jahre bleiben. Und Deutschland hat die Gastarbeiter als vorübergehende Erscheinung angesehen.
Tatsächlich verhalten sich Migranten auch immer noch anders, zum Beispiel wählen sie seltener.
Natürlich, aus Frust: Die Ausbürgerung von Deutschtürken mit Doppelpass hat sich auch auf die türkischstämmige Bevölkerung ausgewirkt, die noch wählen darf. Die sind enttäuscht. Es werden nach unseren Umfragen nur knapp über die Hälfte zur Bundestagswahl gehen. Früher haben bis zu 80 Prozent gewählt. Auch die wirtschaftliche Lage kann eine Rolle spielen. Bei den Deutschen ist die Zahl der Politikinteressierten ja auch nicht sehr hoch.
Sie haben vor kurzem veröffentlicht, dass jede zweite Frau türkischer Herkunft sich mit der Rolle der Hausfrau und Mutter identifiziert. Dabei gibt es keinen Unterschied in der Einstellung von jungen und älteren Frauen. Wächst da eine konservative Migrantengeneration heran?
Das Problem ist, dass Türken oft in Ballungszentren leben. Da ist die soziale Kontrolle schlimmer als im Heimatland. Wenn Frauen aber selbstständig sind, wenn sie ihr eigenes Geld verdienen, lassen sie sich von ihren Männern nicht alles gefallen. Gerade bei den Doppelverdienern wächst die Scheidungsquote, immer öfter geht die Initiative von den Frauen aus.
Aber ihre Studie sagt doch, dass junge Frauen nicht anders denken als ihre Mütter.
Die jungen Frauen leben vielleicht noch oft so, ihre Chancen sind aber größer. Ihr Selbstbewusstsein nimmt zu. Selbst eine Frau mit Kopftuch lässt sich nicht davon abhalten, auf die Uni zu gehen.
Stichwort Kopftuch: Sie sind für ein Verbot und stellen sich damit gegen die Mehrheit ihres Klientels.
In Schulen und Gerichten haben religiöse Symbole nichts zu suchen, die sollten zu religionsfreien Zonen erklärt werden. Ich habe nichts dagegen, dass Schülerinnen und Studentinnen Kopftücher tragen. Aber ich möchte nicht, dass meine Kinder von einer Kopftuchträgerin unterrichtet werden. Das Kopftuch hat für mich einen doktrinären Hintergrund. Es gab auf meine Stellungnahme übrigens keine Reaktion von muslimischen Verbänden. Aber wie viele Frauen sind das denn überhaupt, die Lehrerinnen werden wollen?
Es werden immer mehr.
Aber das sind doch nur wenige Dutzend. Ich glaube, dass es wichtiger ist, die Vorurteile gegenüber den Migranten allgemein zu bekämpfen und mehr Chancengleichheit zu fordern. Dass Azubis wegen ihrer Herkunft nicht angenommen werden, betrifft nicht nur Kopftuchträgerinnen.
Was können die Migranten tun? Politiker bemängeln immer wieder, dass es keinen zentralen Ansprechpartner gibt, etwa für ein Thema wie Islamunterricht an der Schule.
Einen solchen Ansprechpartner wird es nie geben. Der Islam kennt keine zentrale Dachorganisation. Es gibt anders als in der christlichen Religion keine Zwischeninstanz zwischen dem Menschen und Gott.
In Frankreich zum Beispiel gibt es einen Dachverband.
Das ist Augenwischerei. Er vertritt doch nur einen winzigen Teil der Migranten.
Trotzdem: Was können die Migranten tun, um nicht länger fremde Wesen zu sein?
Ich wünsche mir von den Migranten eine kritische Loyalität zu Deutschland. Und die Deutschen sollen ihnen nicht übel nehmen, wenn sie in einer kritischen Solidarität zur alten Heimat stehen.
Sie fordern Patriotismus?
Ja, sie sollen sich mit der Stadt identifizieren, sollen sich einbringen, begeistert sein.
Es ist aber doch sehr schwer vorstellbar, dass ein eingebürgerter Türke sich mit der deutschen Nationalmannschaft identifiziert.
Ich habe mal mit Innenminister Otto Schily über genau dieses Thema gesprochen. Er meinte zu mir, wenn die Türken bei einem Länderspiel die deutschen Fahne schwingen, sei dies ein Zeichen für Integration. Ich sagte ihm: Da können Sie noch lange warten.
Ist die deutsche Nationalmannschaft zu lange blond und blauäugig geblieben?
Das ändert sich ja gerade. Aber man kann nicht erwarten, dass ein Türkischstämmiger bei einem Spiel der Deutschen gegen die Türkei für Deutschland die Fahne schwenkt. Wenn die Türkei ausgeschieden ist, sympathisieren aber viele für Deutschland. Auf der lokalen Ebene bewegt sich schon länger etwas. Bei Spielen zwischen Schalke und Borussia prügeln sich die türkischstämmigen Schalke-Fans mit den deutschen Schalke-Fans gegen die Borussia-Fans.