berliner szenen: Muss ich mit dem Zug hier fahren?
Fast jeder weiß, dass der Regio die schnellste Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Südkreuz ist, nämlich nur zwei Stationen. Wenn man ein Semesterticket hat wie ich, dann ist er schlicht das beste Verkehrsmittel Berlins. Auf dem Weg zu Ikea am besagten Südkreuz stehe ich also Samstag morgens im besagten Regio am Hauptbahnhof und schaue auf mein Handy. Die Türen gehen zu und gleich darauf wieder auf.
Die Schaffnerin hat sich dazwischengeworfen. „Na kommen Sie doch, da halte ich Ihnen extra noch die Tür auf, ey!“ Angesprochen ist eine Frau mittleren Alters, ganz in Schwarz gekleidet und mit grauen Locken, die sie lose im Nacken befestigt hat. Sie steht in einiger Entfernung auf dem Bahnsteig, hat eine Tasche unter ihren Arm geklemmt, guckt die offenen Türen an und kommt langsam näher. Wir stehen uns gegenüber, sie draußen, ich drinnen. Die Schaffnerin ist längst davongerauscht und hat mich allein gelassen.
Endlich macht die Frau den Schritt, die Türen schließen sich. Ich schaue wieder auf mein Handy. Im Augenwinkel sehe ich, wie sie einige Schritte auf der Treppe nach oben geht. Dann: „Sagen Sie, was war denn das grad eben?“ Ich schaue auf. Ihr fragendes Gesicht blickt mich von einigen Stufen über mir an. „Sollte ich jetzt wirklich in diesen Zug steigen?“ – „Na ja, also das kommt drauf an, wo Sie hinwollen“, versuche ich es. „Ja, das weiß ich nicht … Muss ich denn mit dem Zug hier fahren?“ – „Nein, also … Sie können ja auch einfach gleich wieder aussteigen“, versuche ich zu antworten. „Kann ich?“ – „Ja klar.“ Nun scheint sie beruhigt, und ich schaue wieder auf mein Handy.
Am Südkreuz steigen wir gemeinsam aus. Ich blicke mich, von mütterlichen Gefühlen gepackt, noch mal nach ihr um. Sie steht wieder am Bahnsteig und schaut den Zug an. Ich gehe zu Ikea. Marlene Militz
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