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Archiv-Artikel

Frei sein heißt vom Markt frei sein

VON SVEN GIEGOLD UND PEDRAM SHAYAR

Links ist heute, sich dem Sozialliberalismus zu widersetzen und den Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität über nationale Grenzen hinweg zu verwirklichen. Wichtige Teile der sozialdemokratischen Linken exekutieren heute ein sozialliberales Programm. Sie glauben akzeptieren zu müssen, dass in Zeiten des globalisierten Kapitalismus die Interventionsmöglichkeiten des Staats beschränkt sind. Vorbei ist die Zeit, in der alle an der Steigerung der Wertschöpfung teilhaben und in der der Staat Vermögen und soziale Sicherheit gleichmäßig verteilte. Entgegen den Postulaten der Französischen Revolution und auch der liberalen Theorie John Rawls wird heute der Gerechtigkeitsanspruch beschränkt: Bekämpfung von Armut statt Annäherung an soziale Gleichheit, Chancengerechtigkeit statt Verteilungsgerechtigkeit. Zugleich wird die Fähigkeit des Staates zu Repression, Kontrolle und Bestrafung ausgebaut.

Schon aufgrund der Globalisierung kann der Nationalstaat nicht mehr einziger Garant sozialer Rechte sein. Die Linke sollte dies als Chance begreifen. Denn die Beschränkung sozialer Rechte auf Staatsangehörige und die Verbindung von Staatsangehörigkeit an ethnische Kriterien war mit Unrecht verbunden. Menschenrechte stehen als absolute Rechte allen Menschen zu. Es gibt keinen prinzipiellen Grund, warum Menschen Solidarität nur mit Menschen realisieren können, die ihnen ähnlich und räumlich nahe sind.

Schon die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten war in dieser Hinsicht eine Ausweitung. In Zeiten der Globalisierung ist links nicht, den Anspruch an Freiheit und Gleichheit zu beschränken, sondern den Raum der Gerechtigkeit auszuweiten.

Darüber hinaus muss eine zukunftsfähige Linke soziale Rechte mit Freiheit zusammen denken. Der Neoliberalismus bezieht seiner Stärke aus einem Freiheitsversprechen, das sich gegenüber dem Starren aus der Zeit der stärkeren nationalstaatlichen Regulierungen, genannt Fordismus, abgrenzt. Statt der einförmigen festgeschriebenen Lebensarbeitsbiografien, die nur eine Schule, einen Betrieb und dann die Rente kannte, greift der Neoliberalismus den aufrührerischen Impuls aus der 68er-Revolte auf, das Leben freier und flexibler zu gestalten.

Neoliberalismus verspricht diesen individuellen Freiheitsdrang mit dem Zurückdrängen staatlicher Regulierung und Reglementierung bei der Freisetzung freier Marktkräfte zu verwirklichen. Ihre Erfolgsgeschichten sind Promis, die jung und kreativ waren und reich wurden, gerade weil sie unangepasst neue Wege probiert haben.

Die Realität der vom Markt dominierten Flexibilität ist aber das Gegenteil ihres Versprechens, nämlich Druck, Verunsicherung und Freiheitsentzug. Entsprach der Wunsch, nicht nur zwischen 8.00 und 17.00 Uhr arbeiten zu müssen, sondern auch um 12.00 Uhr zu kommen und um 20.00 Feierabend machen zu können, einem Freiheitsdrang nach flexibler Tagesgestaltung, ist dies unter neoliberalen Vorzeichen ins Gegenteil gekippt: Man muss den ganzen Tag zur Verfügung stehen. Der Markt unterminiert die individuellen Freiheiten. Die Verunsicherung und Prekarität drängen die Menschen in Zwangsverhältnisse.

Links sein kann heute nicht heißen, zurückzuwollen in die Zeiten des Fordismus. Es muss darum gehen, das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus gegen ihn selbst zu wenden. Lebensweltliche Flexibilität und individuelle Gestaltung des Lebens lassen sich nur in der Abkopplung des Alltags von den Marktmechanismen erreichen. Insofern hat die Forderung „Arbeit für alle“ seine Berechtigung, ist aber nicht zukunftsweisend, wenn sie klassische Vollbeschäftigung zum Leitbild macht.

Links zu sein heißt, die Zukunft der Arbeit neu zu bewerten und die Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit höher zu bewerten. Das Paradigma „gute Arbeit ist, was Wachstum schafft“ muss herausgefordert werden. Gefragt sind Konzepte, wie gesellschaftlich notwendige Arbeiten unter stärkerer Partizipation und bei Berücksichtigung der Wünsche nach Abwechslung und individueller Alltagsgestaltung zu organisieren sind.

Soziale Rechte müssen ein sicheres Leben gewährleisten. Sie dürfen Sicherheit aber nicht als Starre ermöglichen, sondern als Entzug von Angst, Verunsicherung und Zwang, um Individualität und Kreativität für jeden und jede zu realisieren.

Wie bei den sozialen Auseinandersetzungen bei der Gründung der Nationalstaaten stehen wir am Beginn eines sozialen Konflikts um die Architektur des europäischen und globalen Raums. Links ist heute, die sozialen Bewegungen auf europäischer und globaler Ebene handlungsfähig zu machen, um soziale Rechte neu zu erstreiten. Gemeinsam mit allen Organisationen und Bevölkerungsgruppen, die unter dem Neoliberalismus leiden, müssen wir internationale Institutionen einfordern, die soziale Rechte europäisieren und globalisieren. Viele Teilkonzepte im Bereich internationaler Steuern, Sozial- und Umweltstandards, bindender Regeln für transnationale Konzerne oder europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik hat die Bewegung bereits erarbeitet. In anderen Feldern liegt diese Arbeit noch vor uns. Auch die Bewegungsorganisationen selbst wie Gewerkschaften oder Umweltverbände werden sich internationalisieren müssen. Die Aufgabe unserer Generation ist es, diese internationale Handlungsfähigkeit Wirklichkeit werden zu lassen.