Linke, denkt positiv!

Marx hätte dieheutige altväterliche Traditionslinke schlicht verachtet

VON ROBERT MISIK

Alles wird schlechter. Wenn man das Grundgefühl des Mainstreams der zeitgenössischen Linken auf eine knappe Formel bringen will, dann darauf: Täglich geschieht auf der Welt etwas Deprimierendes. Die Kräfte der Finsternis breiten sich aus, die Kräfte des Lichts strahlen Tag für Tag schwächer. Dagegen muss man sich doch wehren. Globalismus, Konsumismus und die Auflösung des traditionellen Industrieproletariats werden zu einem Sauerteig verrührt, der Stoff für endlose Jeremiaden bietet.

Ein breiter Strom der Übellaunigkeit verbreitet sich. Nicht zuletzt hat er die Linkspartei schon an die Pforte des Bundestags gespült. Erstaunlich – und auch wieder nicht –, dass jetzt allerorts eine Marx-Renaissance annonciert wird. Der Spiegel widmeten dem Urvater des Kommunismus jüngst seine Titelseite: „Ein Gespenst kehrt zurück“.

Dabei gibt es für eines ganz gewiss kein Indiz: für die Rückkehr von Marx’ habituellem Optimismus, der immerhin für ziemlich exakt ein Jahrhundert die Grundmentalität der Linken prägte. Die fröhliche Zukunftsgewissheit, von Marx theoretisiert, war von Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ihr verallgemeinerter Habitus geworden. Die Vorstellungsreihe lautete in etwa: Mag die Gegenwart auch trist sein, die Zukunft gehört uns. Die Geschichtsläufe sind ein Prozess des Fortschritts, und der ist unaufhaltsam. Die Verhältnisse sind der Sache der Emanzipation günstig.

Dieser Habitus prägte das Weltverhältnis der Linken: Veränderungen wurden mit Neugierde aufgenommen, jede neue Vergesellschaftungsetappe des Kapitals als Sprosse auf einer Himmelsleiter interpretiert, die Fortschritt hieß – als kleiner Schritt in Richtung einer besseren Welt gesehen.

Das war natürlich im Kern theologisches Schmuggelgut. Wie den frühen Christen die Ankunft des Heils, galt Marx und seinen Anhängern die proletarische Revolution als Gewissheit. „Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben“, formulierte Marx in einem berühmten Brief, und: „Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt.“

Fortschrittspathos und Katastrophismus lagen bei Marx also nahe beieinander. Er war fasziniert von der revolutionären, weltverändernden Gewalt des modernen Kapitalismus. Hell besang er, wie die Bourgeoisie um den Erdball rast, die rückständigen Zonen ihrer Herrschaft einverleibt. Sie habe „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“. Und, in einer berühmten Wendung aus dem „Kommunistischen Manifest“: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse […] werden aufgelöst. Alles Ständische und Stehende verdampft […]“.

Im „Kapital“, seinem Lebenswerk, analysiert er die Funktionslogik des Kapitalismus, seine Aporien, Paradoxien, die Pirouetten, die er dreht. Da ist Marx nahe an seinem Gegenstand, von der literarischen Kraft eines großen Romanciers. Weite Strecken des Kapitals haben wenig von ihrer analytischen Wucht eingebüßt. Allein, dass der Kapitalismus immer breitere Schichten in ein verelendetes Arbeiterheer verwandelt, dass die Kreativitäten, die in ihm schlummern, bald in Widerspruch zur privaten Aneignung des Reichtums geraten werden, dass der gesellschaftliche Fortschritt an ein Ende gelangen muss und der Kapitalismus in einer gewaltigen gesellschaftlichen Eruption untergehen werde – mit dieser Prognose war Marx Opfer eigener radikaler Konsequenz. Grandios gedacht, grandios geirrt.

Marx Weltneugierde ist natürlich nicht leicht von solchen Trugschlüsse abtrennbar. Gewiss war er nur insofern ein glühender Bewunderer der weltverändernden Wucht des Kapitalismus, weil er überzeugt war, das Resultat dieser Wucht werde der Kommunismus sein.

Aber doch ist etwas in dem Betriebsklima des Marx’schen Denkens, das wert ist, bewahrt zu werden, und das in weiten Teilen heutiger linker Melancholie schmerzhaft abgeht: ein positives Verhältnis zum Neuen ohne die lächerliche Apologie des Neuen, wie wir sie von den professionellen „Trendforschern“ kennen. Wer nur beleidigt ist ob des Zustands der Welt, der wird sie nicht erobern. „Nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu ändern“, hatte Walter Benjamin formuliert. Dabei handelt es sich nicht um blauäugigen Modernisierungsfuror. Tendenzen innerhalb der herrschenden Verhältnisse auszumachen, die der Sache der Emanzipation günstig sind, ist vielmehr der Schlüssel zur Emanzipation. Für Marx war die allgemeine Emanzipation eine Tendenz, eine Potenz der kapitalistischen Gesellschaft. Wäre sie das nicht, dann wäre die Emanzipation von peinigenden Verhältnissen nur ein schöner, leerer Traum schwärmerischer Geister. „Wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichotterie“, hatte Marx in den Grundrissen formuliert.

Nichts war ihm verhasster als solche Kämpfe gegen Windmühlen. Wenig hätte er mehr verachtet als eine altväterliche Traditionslinke, die sich einrichtet im Jammertal und die in den aktuellen Verhältnissen nur Schreckliches ausmachte – und dann unvermittelt postulierte, es müsse solidarischer zugehen, die Menschen müssten endlich Brüder werden. Ja, hätte er eingewandt, wie sollen denn die Menschen Brüder werden, wenn nichts in den Verhältnissen auszumachen ist, was dem günstig wäre?

Marx’ Lebenswerk bestand im Kern darin, in der Transformation der materiellen Produktionsprozesse die vielen kleinen Schwungräder auszumachen, die der Bewegung Richtung mehr Freiheit, einer selbstbestimmten Existenz aller stetig Energie zuführen. Gewiss hat sein Werk da und dort deterministische Schlagseite – dass die Befreiung ein naturnotwendiges Resultat der Verhältnisse sei, wird heute niemand mehr behaupten.

Und doch setzt auch der heutige Kapitalismus Prozesse in Gang, die potenziell positive Resultate zeitigen können: Die neoliberale Subjektivierung herrscht alle an, ihre Kreativität, ein erfülltes Ich zu entwickeln; er pflanzt ihnen die Sehnsucht ein, sich nicht bloß in einen leeren Trott einzufügen, sondern nach einer sinnvollen Existenz zu streben; die technologischen Revolutionen bieten ungeheure Möglichkeiten, die Globalisierung reißt die Grenzen der engen Räume – und auch der Engstirnigkeiten – ein, sie erweitert den Horizont aller. Der digitalisierte Netzwerkkapitalismus macht schnelle, selbstbestimmte Kooperation möglich. Natürlich diktiert das Kommerzprinzip die Spielregeln. Aber es gibt auch die vielen Poren und Nischen, in denen es sistiert ist. All dies sind zutiefst widersprüchliche, im Zickzack verlaufende Prozesse, die Fortschritte werden sofort von neuen Begrenzungen, die Begrenzungen von neuen Fortschritten konterkariert.

Die Eigensinnigkeit, die die postfordistische Produktion von den Subjekten verlangt, kann sowohl Widerständigkeit als auch Entsolidarisierung als Resultat haben (nicht selten beides zur selben Zeit). Im postmodernen konsumistischen Glitzeruniversum, das in vielen Akten äußerer und innerer Landnahme sich alles und jeden anschließt, erleben wir einen Quantensprung an Entfremdung. Gleichzeitig ist dies vielen – und immer mehr – Menschen bewusst, und sie versuchen, sich dagegenzustemmen. Es gibt viele kleine Revolten. Politische, mehr vielleicht noch private Revolten. Doch auch die privaten Revolten sind in einem solchen Rahmen nie nur privat. Und es gibt eine junge, metropolitane Linke, die von vielen Traditionshütern aus Sozialbewegungen, 70er-Jahre-Linken und Marxismusordinariaten gar nicht einmal wahrgenommen wird.

Das Bild, das die Jeremiaden malen, ist in jedem Fall zu schwarz, um wahr zu sein. Das erklärt, beispielsweise, auch den Erfolg eines eher unlesbaren Buches wie „Empire“ von Antonio Negri und Michael Hardt. Die schwere politologische Prosa lässt gleichzeitig auch eingängige Bilder entstehen: Bilder von der Freiheit der Subjekte, von ihrer Fähigkeit, ihre Lebensumstände selbst zu gestalten, ihrer Kraft, die Verhältnisse zu verändern, und davon, dass diese Verhältnisse solchen Veränderungen günstig sind.

Was immer man daran kritisieren mag oder muss – das Buch ist ein Versuch, Marx’ positive thinking zu revitalisieren, jene originelle Denkmethode wieder ins Recht zu setzen, deren größter Meister Marx war: mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse zu denken.