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Archiv-Artikel

Zwei Evangelen spielen im Siegener Las Vegas

taz geht wählen – die Serie zur Bundestagswahl am 18. September. Die 64 nordrhein-westfälischen Direktwahlkreise im Portrait. Wer kämpft um die Mandate? Wer sind die Außenseiter? Wer gewinnt? Heute: Kreis Siegen-Wittgenstein

Siegen-Wittgenstein?

Der Wahlkreis mit der Nummer 149 umfasst elf Städte und Gemeinden und ist daher sehr weitläufig. Es geht bergauf und bergab und irgendwann landet man in Siegen, einem Städtchen, in dem die Jugend über kulturelle Langeweile klagt, angesichts des öden Umlandes aber quasi in Las Vegas wohnt. Besonders stolz ist Siegen auf die Sportfreunde, den städtischen Fußball-Verein, der unlängst in die Zweite Bundesliga aufgestiegen ist. Außerdem attestierte der schwedische Möbelist Ikea Siegen die Zivilisation, in dem er dort ein neues Verkaufshaus erbaute. Passiert man jedoch die Stadtgrenze, durchkreuzt man haufenweise Dörfer, fährt über Felder, Berge. Das ist das Wittgensteiner Land. Da leben die „Witschis“ – wie der Siegener gerne schnöselt.

Wer verteidigt den Wahlkreis?

Willi Brase von der SPD. Der 53-Jährige gewann bei der Bundestagswahl vor drei Jahren denkbar knapp vor dem CDU-Abgeordneten Paul Breuer. Brase, bald 25 Jahre in der SPD, ist evangelisch, verheiratet, hat zwei Kinder und unheimliche viele Posten inne. Er mischt bei der Industrie- und Handelkammer mit, sitzt im Verwaltungsausschuss der Arbeitsagentur und ist Regional-Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Politisch ist der gelernte Kaufmann kein Schröder-Anhänger: Bei der Vertrauensfrage im Juli stimmte Brase mit Ja, sprach dem Kanzler gegen dessen Willen das Vertrauen aus. Und Brase ist gegen Hartz. Ohne eine Abkehr von diesen Reformen sei die Wahl schon verloren, hat er im Mai gesagt. Und vielleicht deshalb später mit Ja gestimmt, um eine Neuwahl zu umgehen.

Wer will den Wahlkreis?

Ulrich Künkler von der CDU. Der 33-Jährige kommt schnurstracks aus dem CDU-Nachwuchs und durfte Paul Breuer ablösen, nachdem das christdemokratische Fossil gegen Brase verloren hatte. Breuer saß 23 Jahre im Bundestag, nun ist er Landrat und Künkler soll‘s richten: Der Historiker ist evangelisch, ledig und hat gegenüber Brase den Vorteil, dass er aus der Region stammt, aus Siegens Nachbarstadt Netphen. Dort war er lange Jahre „Sachkundiger Bürger der Gemeinde“. In seinem Flyer drischt Künkler die selben Phrasen wie die Parteioberen: Schicksalswahl, klarer Kurs, Aufbruch, Sie kennen das.

Die großen Außenseiter?

Sympathischster Außenseiter ist Peter Neuhaus von den Grünen. Ohne Listenplatz ist er allerdings chancenlos. Dafür hat der promovierte Theologe einen verrückten Lebenslauf: Studium, zwei Jahre bei Hilfsprojekten im Ausland, dann Gemeindereferent, dann Entlassung aus dem kirchlichen Dienst (Neuhaus wollte auch Nicht-Katholiken zum Abendmahl bitten), dann Umschulung zum Krankenpfleger, Promotion, jetzt Hausmann, Politiker und Krankenpfleger.

Die taz-Prognose?

Künkler gewinnt, Brase zieht über die Landesliste ein. Alle anderen machen wieder mehr Ausflüge ins Wittgensteiner Land.

BORIS R. ROSENKRANZ