ZEIT.ORTE

Ankunft

Ludwig Lugmeier, geb. 1949 in Kochel am See, lebt in Berlin als freier Autor. Zuletzt erschienen von ihm unter anderem „Der Mann, der aus dem Fenster sprang“, Roman (2005), und „Die Leben des Käpt’n Bilbo. Faktenroman“ (2017), Gedichte und Erzählungen in verscheidenen Verlagen, außerdem Rundfunk-Features, Reportagen, Essays.

Ludwig Lugmeier

Wäre der Zug nicht stehen geblieben, ich hätte dem Bahnhof keine Beachtung geschenkt. Ein Blick aus dem Fenster, nun ja, da fliegt ein Gebäude mit Stellwerk vorbei. Kein Grund, sich Gedanken zu machen. Gesehen und verschwunden. Wie das meiste im Leben. So aber stellten sich Fragen. Was ist das für ein Bahnhof? Wie heißt die Station? Warum halten wir an?

„Viertel vor vier“, sagte der Herr auf dem Sitz gegenüber. „Acht Minuten Verspätung.“

„Dabei steigt keiner zu“, sagte ich.

„Hier steigt nie jemand zu“, entgegnete er.

Ein gut gekleideter Herr. Dunkler Anzug, Taschenuhr an silberner Kette, Schuhe doppelt genäht und im Gepäcknetz eine Aktentasche aus Leder. Akademiker, nehme ich an. Er putzte die Brille mit einem Papiertaschentuch, kämmte das Haar und tätschelte sich Eau de Toilette unters Kinn. Im Coupé verbreitete sich ein Hauch von Limone.

„Sie fahren öfter die Strecke?“

„Ab und zu“, sagte er.

„Hält hier immer der Zug?“

„So weit ich mich erinnere: ja.“

„Aber es steigt niemand zu?“

„Meist steigt jemand aus.“

Er versenkte sich in ein Buch. Ein umfangreiches Werk. „Krieg und Frieden“ vielleicht. Hätte ich mich für die Reise nur auch mit Lektüre versorgt. Schon für eine Illustrierte wäre ich dankbar gewesen. So blieb mir nichts anderes übrig, als aus dem Fenster zu sehen. Was ich sah, war ein schmales Bahnhofsgebäude aus Tuffstein, auf dem ein steiles Satteldach hockte. Parterre, das verriet ein Emailleschild, befanden sich Schalterhalle und Gepäckaufbewahrung. In der Etage darüber des Bahnhofsvorstehers Dienstwohnung wohl. Ein kleiner Balkon mit Blumenkästen, in denen Geranien wuchsen. Auf einer Leine trocknete Wäsche. Aus der offen stehenden Balkontür wehte eine Gardine.

„Hoffentlich ist die Station in Betrieb.“

Der Herr senkte das Buch.

„Was glauben denn Sie?“

„Nun“, sagte ich, „es könnte ja sein, dass sie keine Verwendung mehr findet.“

„Warum hält dann der Zug?“

„Vielleicht aus Versehen.“

Er klappte das Buch zu. Aber wie!

„Aus Versehen“, blaffte er.

„Nur so ein Gefühl“, sagte ich.

„Gefühl! Wer sich auf Gefühle verlässt … Da hält endlich der Zug, aber Sie, Sie haben so ein Gefühl.“

„Sie etwa nicht?“

Er schlug sein Buch wieder auf.

Leser sind ungesellige Menschen. Schlagen ein Buch auf und schon haben sie den Empfang eingestellt, kratzen sich ungeniert im Schritt oder unter den Achseln, bohren in den Ohren, mit Streichhölzern meist, aber auch mit Zahnstochern oder Barbecue Spießchen und tauchen in Fantasiewelten ab oder verbeißen sich in abstruse Gedanken.

„Was lesen Sie denn?“

Keine Reaktion.

„Krieg und Frieden vielleicht?“

Nicht mal ein Blick!

„Oder ein anderes Buch?“

Nun sah mich der Herr wieder an, aber so, als hätte ich ihm einen Knopf von der Weste gerissen.

„Es geht Sie zwar nichts an“, sagte er. „Aber bitte! Ich lese von Dante Alighieri einen Reisebericht.“

„Spannend?“, fragte ich noch, doch da hatte er sich schon wieder in die Lektüre vertieft.

Ein Windhöschen wirbelte den Bahnsteig entlang und schleuderte roten Sand in die Luft. Kein Mensch weit und breit, zumindest konnte ich keinen entdecken. Nur eine senfgelbe Dogge. Hechelnd lag sie im Schatten ihrer Behausung, die sich neben der Tür zum Stationsgebäude befand. Und eine Krähe. Sie stelzte auf dem Geländer entlang, das den Bahnsteig begrenzte.„Ein seltsamer Ort“, sagte ich. „Niemand steigt aus, niemand steigt zu, doch der Zug fährt nicht weiter. Ob der Lokomotivführer auf eine bedeutende Persönlichkeit wartet, den Bürgermeister womöglich?“

Ich versuchte das Fenster zu öffnen, was jedoch nicht gelang. Der Griff diente wohl einem anderen Zweck. Dabei war es schwül im Coupé. Auch überkam mich wieder so ein Gefühl.

Der Herr sah erneut auf die Uhr.

„Nun“, fragte ich, „wie lange stehen wir schon?“

„Fünfundvierzig Minuten“, gab er zur Antwort.

Immerhin schien sich nun etwas zu tun. Ein kleines Mädchen trat hinter einer Reklametafel hervor, die sich neben dem Stellwerk befand und sah sich vorsichtig um. Dann tippelte es eilig zum Zug. Doch es hatte noch nicht den Bahnsteig erreicht, als ein uniformierter Kasten von Mann aus der Tür des Bahnhofes schnellte, das Kind bei den Haaren erfasste und ihm ins Gesicht schlug. Dann klemmte er es unter den Arm und trug es in das Gebäude hinein.

„Haben Sie das gesehen?“

Der Herr verzog keine Miene.

„Wie er das Mädchen bei den Haaren gepackt hat! Und ihm ins Gesicht schlug! Haben Sie das gesehen?“

„So etwas kommt vor.“

So etwas kommt vor – was für eine Bemerkung! Ein erwachsener Mann, ein Kleiderschrank von einem Mann, schlägt einem Kind ins Gesicht, und dieser gebildete Herr, der dicke Bücher verschlingt, sagt: „So etwas kommt vor.“

„Das ist doch keine Art!“, empörte ich mich. „Das tut man doch nicht! Dazu ein Beamter, ein Mann von der Bahn! Was hat denn das Mädchen verbrochen?“

Der Herr klappte das Buch wieder zu, massierte sein Kinn und sagte: „Was hat es auch auf dem Bahnsteig zu suchen? Wenn es der Zug überrollt …“

„Aber der Zug steht doch still“, fuhr ich ihm in die Rede. „Es geht doch nicht an, dass ein erwachsener Mann ein kleines Mädchen verprügelt, nur weil es den Bahnsteig betritt. Wohin kämen wir denn, wenn jeder … “

„Eben“, fuhr er seinerseits mir in die Rede. „Wohin kämen wir, wenn jeder den Bahnsteig beträte. Eines der Kinder fängt an, andere tun es ihm nach und schon wimmelt es von ungezogenen Bälgern. Drängen in die Waggons, ohne Erlaubnis, ohne Billett. Und dann, bitte schön? Der Mann tat seine Pflicht. Ihm blieb gar nichts anderes übrig.“

„Um alles in der Welt, welche Kinder?“, wollte ich gerade parieren, als ich sie auch schon bemerkte. Eingeschüchterte, blasse Gesichter. Sie spitzten hinter der Reklametafel hervor. Ein kleiner Junge, der in einer Kniehose steckte, wagte sich sogar zwei, drei Schritte heraus, sprang aber sofort in die Deckung zurück, als die Dogge zu knurren begann.

In die zum Bahnsteig hin offene Schalterhalle war indes ein Fräulein getreten, das auf dem Kopf ein Kapotthütchen trug. Es setzte sich auf eine Bank und kramte aus seinem Pompadour Garnknäuel und Häkelnadeln hervor. Kaum dass es zu häkeln begann, stapfte ein Mann in die Halle, ein Walross von Mann, mit einer dicken jungen Frau im Gefolge, vielleicht dessen Tochter. Dahinter ein Chauffeur, wie Stiefel und Mütze verrieten. Auch junge Herren drängten herein, sowie Schankwirte, Handwerker, Invaliden, Straßendirnen und Lumpengesindel. Die Schalterhalle quoll bald über vor Menschen.

„Sehen Sie nur“, sagte ich, „wie sich der Bahnhof belebt!“

Und da kamen nun hinter der Reklametafel auch die Kinder hervor. Der Herr hatte sie ungezogene Bälger genannt, die ohne Erlaubnis in den Zug drängen würden. Was sich als Unterstellung erwies, denn weder drängten sie in den Zug, noch benahmen sie sich ungebührlich und frech. Im Gegenteil. Sie stellten sich vor die Reklametafel und begannen herzergreifend zu schluchzen, was an der Schönheit des angeschlagenen Plakats liegen mochte: Ein von Blumengirlanden umranktes Tor mit einer weißen Taube inmitten. „Beerdigungsinstitut Himmel“ stand darüber zu lesen.

Es hatte indessen zu dämmern begonnen. Letzte Sonnenstrahlen blitzten noch in den Fensterscheiben des Bahnhofsgebäudes, die Schalterhalle aber verdunkelte sich und bald glimmte nur noch da und dort eine Zigarettenglut auf. Der Herr hatte sein Buch zugeklappt und die Augen geschlossen, er schien fest zu schlafen. Als erste Rufe erschallten:

„Zurück! Zurück!“

„Wir wollen zurück!“, stimmten andere ein.

Dann ging das Bahnhofslicht an, gelbliche Leuchten, die den Bahnsteig mit ranzigem Licht überschwemmten, sodass ich den Bahnbeamten und den Hund wieder sah. Sie patrouillierten die Gleise entlang, zähnefletschend die Dogge, der Beamte mit einem furchterregenden Knüppel. Den er zu gebrauchen verstand. Und wie! Wer immer den Bahnsteig betrat, bekam ihn ohne Rücksicht zu spüren. Versuchten sich die Betroffenen zu retten, sprang das Tier auf sie los und fetzte ihnen die Kleider vom Leib. Das Fräulein mit dem Hütchen wälzte sich im Schotter der Gleise, der Chauffeur hinkte fluchend umher und ein stattlicher Herr kroch auf allen Vieren zur Schalterhalle zurück.

Die dumpfen Schläge, das Gebrüll der Geknüppelten und das Hundegebell weckten den mir gegenüber sitzenden Herrn wieder auf. Der Vorgang schien ihn jedoch nicht zu berühren. Er blickte kaum hin, als die Dogge einer Frau die Bluse zerfetzte. Unbekümmert entnahm er seiner Aktentasche eine Thermosflasche, schenkte dampfenden Tee in die Kappe und biss herzhaft in ein Sandwich mit Schinken. Es schien ihm ausgezeichnet zu schmecken.

„Warum lässt dieser Unmensch die Leute nicht in den Zug?“

„Hm“, machte er nur und spülte einen Bissen hinunter.

„Sehen Sie bloß! Jetzt verbeißt sich der Hund in die Schenkel des Fräuleins!“

„Tja“, sagte der Herr.

„Aber wo leben wir denn?“

Nun begann er zu lachen.

„Wo leben wir denn, jahahaha, wo leben wir denn!“

Gejammer, Geplärre, Hundegekläff, das Schluchzen der Kinder, zwischendurch skandierte der Chor: „Zurück in den Zug!“, gelb angestrahlte Gestalten, Alte und Junge, Gekreisch, verzweifelte Schreie und der Herr auf dem Platz gegenüber wieherte: „Jahahaha, wo leben wir denn!“

Allmählich verklangen Gekreisch und Geplärre, selbst das Gejammer verstummte. Die Menschen zogen sich ins Dunkel der Schalterhalle zurück. Doch während der Herr die Thermosflasche in der Aktentasche verstaute und sich mit einem Taschentuch die Lippen betupfte, begann es vom Ende des Zugs her zu klopfen. Der Bahnbeamte schritt den Bahnsteig entlang und stieß seinen Knüppel gegen die Wände. Bis er bei unserem Waggon angelangte.

„Wurde auch Zeit“, sagte der Herr.

Der Beamte trommelte gegen die Scheibe.

„Machen Sie schon!“, sagte der Herr.

Die Dogge sprang am Fenster empor und kläffte mich an.

„Steigen Sie aus!“

„Aber was soll ich denn hier?“

„Hier“, sagte er, „muss jeder mal raus.“