: Rote Fahnen überm Beet
Die MLPD könnte bei der Bundestagswahl einen Überraschungserfolg landen
Zu den interessantesten politischen Projekten der letzten Jahre gehört zweifellos die in Gelsenkirchen ansässige Maiglöckchen-Lupinen-Partei Deutschlands (MLPD). Gegründet wurde die MLPD von dem Berliner Fußballspieler Thorben Marx und dem Brandenburger Klosterbruder Lehnin im Jahre 1992 auf der Bundesgartenschau in Dortmund. Derzeit werden die Geschicke der MLPD und ihrer 17 Mitglieder von Fred, einem Gärtner aus Bremen und Gabi, einer Ikebana-Meisterin aus Minden gelenkt (siehe auch das Wahlkampfplakat der MLPD).
Einziges politisches Ziel der MLPD: Deutschland soll ein Agrarland werden. Der Plan zur Umsetzung dieses ehrgeizigen Vorhabens heißt zu Recht unbescheiden „Revolutionärer Weg“. Er sieht vor: 1. Verteilung von Maiglöckchen- und Lupinensamen vor den Werkstoren, um die Massen für das Vorhaben zu begeistern. 2. Schnupperkurse in Gärtnerei und Ikebana, um eine nachhaltig ganzheitliche Beziehung zur agrarischen Lebensweise aufzubauen. 3. Behutsamer Rückbau aller Schlüsselindustrien, an erster Stelle Schlüsseldienste, Schlüsselreizwäsche, Schlüsselerlebnisgastronomie. 4. Bepflanzung aller Flachdächer und innerstädtischen Freiflächen mit Maiglöckchen. Bepflanzung aller Bundesautobahnen mit Lupinen. 5. Weltweit ausgerichtetes Marketingkonzept für „Blumen aus dem schönsten Agrarland der Welt“. 6. Dann sehen wir weiter.
Mit ihrem stramm marktwirtschaftlichen Kurs ist die MLPD zugleich Konkurrent und potenzieller Koalitionspartner der FDP. Beiden gemeinsam ist das Ziel, die Altersvorsorge vollständig zu privatisieren. Bei der MLPD soll jeder Bürger im Laufe seines Gärtnerlebens Anteile an Lupinen- und Maiglöckchenbeeten erwerben, von deren Erlös dann der wohlverdiente Lebensabend finanziert werden kann. Fred rechnet vor: „Um eine monatliche Rente von 60 Euro zu garantieren, braucht es ein Lupinenfeld von gerade mal 60.000 Quadratmetern. Die Blümchenrente ist eine grundsolide Sache, finanziert aus den Früchten unserer Aufbauarbeit.“
Gabi und Fred geben sich siegesgewiss: „Jede neue Erkenntnis ist ein Sprung in unserer politischen Tätigkeit und eine Waffe im Klassenkampf. Je mehr wir uns diese Waffe aneignen, sie immer wieder schärfen, umso besser können wir unsere Praxis, die tagtägliche Kleinarbeit im Betrieb und Wohngebiet, ausüben“, betonen sie ein ums andere Mal.
Wer schon einmal ein Maiglöckchenbeet betreut hat, weiß, was mit Kleinarbeit gemeint ist. Jäten und hacken, gießen und düngen sind ja nur die Grundlagen. In langen Versuchsreihen hat das wissenschaftliche Institut der MLPD herausgefunden, dass Pflanzen auf farbliche Reize reagieren. Das Schwenken einer roten Fahne über einem Maiglöckchenbeet führt zu verbesserten Wachstumsergebnissen von bis zu 30 Prozent. „Je nachdem, wie schnell man die Fahne schwenkt“, erklärt Gabi. Ihr muskulöser Oberkörper lässt erahnen, wie viele tausend Stunden sie bereits Maiglöckchen mit Farbreizen stimuliert hat.
Am 1. Mai, dem Kampftag aller Maiglöckchen, gehört die Parade der Fahnenschwenker durch die Fußgängerzone von Gelsenkirchen zu den absoluten Höhepunkten. Aber auch die Lupinen werden nicht vernachlässigt. „Sie mögen es gern, wenn man ihnen eine Geschichte vorliest“, sagt Fred und zeigt sein zerlesenes Exemplar von „Die Biene Maja“. Er weiß nicht, wie viele Hektar Lupinen er damit schon hochgepäppelt hat.
Die Einführung eines Feiertages für Lupinen – im Gespräch ist der 3. Oktober – ist nicht zufällig die wichtigste kulturpolitische Forderung der MLPD. Ob in der Familienpolitik (Mütter mit mehr als vier Kindern sollen einen Maiglöckchenstrauß als kleines Dankeschön erhalten) oder in der Außenpolitik (Lupinenanbau anstelle von Mohn in Afghanistan), die MLPD hat für alle Probleme eine zeitgemäße moderne Antwort auf pflanzlicher Basis. Kein Wunder, ist sie doch mit den Erkenntnissen des wissenschaftlichen Sozialismus gewappnet. Sie verficht daher auch ein Gesellschaftsmodell, „das erfolgreich ein allseitiges System der Selbstkontrolle praktiziert, um mit dem Einfluss der kleinbürgerlichen Denkweise wie Egoismus, Karrierismus und Resignation fertig zu werden“. Alles Dekadenzerscheinungen, die Maiglöckchen und Lupinen nur vom Hörensagen kennen.
Die bravourös kämpfenden Mitglieder der MLPD haben den Wahlkampf während der vergangenen Wochen und Monate geprägt, und die etablierten Parteien haben das Potenzial von Maiglöckchen und Lupinen bisher komplett verschlafen. Gerade im Bereich von Kleingartenkolonien und Gartencentern kann die MLPD daher mit zweistelligen Ergebnissen rechnen. Neue Gesichter auf der Bühne der großen Politik können nur belebend wirken, um den Mehltau aus Lethargie und Selbstzufriedenheit zu überwinden. Vor allem, wenn diese Gesichter Visionären wie Gabi und Fred gehören. ROB ALEF